Benedikt Maria Trappen
18. Dezember 2020. Frankfurt, Flughafen, Terminal 1.
Leere Parkdecks. Leere Aufzüge. Leere Gänge. Leere Rolltreppen. Nur wenige Menschen. Die Flugtafeln überschaubar. Lautsprecherstimmen, die auffordern, eine Mund-Nasen- Bedeckung zu tragen. Viel Zeit für die, die ihre Jobs noch nicht verloren haben, ihre Arbeit gründlich zu tun.
18.37 Uhr, Sicherheitskontrolle.
Routinemäßig hole ich den Laptop aus dem Rucksack und lege ihn in die Wanne. Jacke. Fleece. Rucksack und Koffer. Vor der Durchleuchtung werde ich angewiesen die Beine auseinander zu stellen und die Arme angewinkelt zu halten, Handflächen nach hinten. „English? Deutsch?“ – „Deutsch“. – „Gut“. Mit einer Handbewegung weist er mich einem Kollegen hinter der Schleuse zu. „Gürtel öffnen. Ich taste Sie jetzt einmal ab“. Ich öffne den Gürtel. Seine Finger tasten den Bund meiner Jeans innen ab. „Jetzt einmal den Intimbereich“. Mit beiden Händen tastet er Bauch, Hüften, Oberschenkel, Unterschenkel ab. Aufdringlich. Unangenehm. „Füße anheben.“ Er tastet die Sohlen ab. „Einmal Schuhe ausziehen.“ Ich öffne die Schnürsenkel und ziehe erst den linken, dann den rechten Schuh aus. Er tastet beide ab, nimmt die Einlegesohlen raus und stellt sie so vor mich hin. „In Ordnung. Gute Reise.“
Während ich die Schuhe wieder zusammenbaue, anziehe und den Gürtel schließe macht mich meine Frau auf meinen Rucksack aufmerksam, der bei der Durchleuchtung ebenfalls ausgesondert wurde. „Ich komme gleich“. – „Ist das ihr Rucksack?“ Ich nicke. „Bitte nur öffnen, nicht rein greifen.“ „Es könnte eine Pistole darin sein?“ versuche ich mir die Anweisung laut denkend zu erklären. Die Dame nickt. „Da ist Sprengstoff drin, literarischer Sprengstoff „, füge ich, wie öfter schon (Hasenhüttl: Glaube ohne Mythos), hinzu.
„Was ist da drin?“ mischt sich ein junger Kollege ein. „Literarischer Sprengstoff“, wiederhole ich. „Lassen Sie das“. „Da ist literarischer Sprengstoff drin“, wiederhole ich noch einmal. „Lassen Sie das! Wissen Sie, wo Sie sind?“ „Ja sicher. Frankfurt, Flughafen, Sicherheitskontrolle“, antworte ich. „Deutschland“, fügt meine Frau – eine Estin – erhellend hinzu. Der junge Mann beauftragt einen Kollegen, die Sicherheitstruppe zu rufen. Umgehend sind wir von vier schwer bewaffneten Polizisten umstellt, die Maschinenpistolen im Anschlag. „Was haben Sie für ein Problem“, fragt mich ein junger Polizist. „Ich habe kein Problem“, antworte ich und nicke in Richtung des erregten Sicherheitsbeamten. „Er behauptet, Sprengstoff im Rucksack zu haben“. „Literarischen Sprengstoff“, verbessert meine Frau.
Unter den Augen der schwer bewaffneten Sicherheitsbeamten beginnt eine Kollegin den Rucksack auszuräumen. Zwei kleine Bücher – Abi genial. Chemie und Mathematik – kommen zum Vorschein, die unsere vierzehnjährige Tochter kurz vorher noch eingepackt hat. Ich schüttle den Kopf. Die Dame nickt, legt die Bücher zur Seite und holt dann vorsichtig Chögyam Trungpa „Wie unser Geist funktioniert“ heraus. Die Dame schaut mich fragend an. Ich neige leicht den Kopf, ziehe die Augenbrauen hoch und hebe die Schulter. Sie legt das Buch zur Seite und holt dann nach einander vorsichtig drei dicke weiße Bücher heraus: Friedrich Nietzsche. Nachlaß 1884 – 1885, 1885 – 1887 und 1887 – 1889. „Literarischer Sprengstoff. Bücher. Verstehe“ kommentiert einer der Polizeibeamten. „Ist sonst noch was Verdächtiges drin?“ Die Dame holt einen Bleistift, einen Bleistiftspitzer, einen Radierer und einen Tan- Generator hervor und schüttelt den Kopf. „Ihren Ausweis bitte.“ Meine Frau gibt dem Beamten meinen Ausweis, der ihn sorgsam mustert und abfotografiert. „Ihren bitte auch“, fordert er meine Frau auf. Auch dieser Ausweis wird fotografiert.
Inzwischen wurden auch unsere Koffer aussortiert, geöffnet und mit speziellen Teststreifen auf Sprengstoff untersucht. Ausnahmsweise räumt der freundliche Mann die Dinge noch einmal zurück und schließt die Koffer. Der dienstbeflissene Kontrolleur hat sich inzwischen zurückgezogen. Die bewaffnete Polizeitruppe kehrt zu ihrem Standort zurück.
„Ich bin gar kein Mensch“, hatte Nietzsche geschrieben, „ich bin Dynamit.“ Was für ein Glück, denke ich, dass Nietzsche nie geflogen ist, und Reisende mit Schiff und Bahn damals noch nicht auf ihre Gefährlichkeit hin überprüft wurden.