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Ein neues Zeitalter der Unfreiheit

Lama Anagarika Govinda

Klar sieht, wer von ferne sieht,
und nebelhaft, wer Anteil nimmt
Laotse

Das Höchste ist das Nächste, gesehen unter dem Aspekt der Ferne. Das Höchste ist zugleich das Verständlichste, weil es genügend Abstand von uns hat, um klar, das heißt leidenschaftslos, gesehen zu werden.

Darum gelang es den Alten, von den höchsten Dingen in der einfachsten Sprache zu reden.

Abstand ist die Vorbedingung aller menschlichen Würde und Freiheit.

Bewegungsfreiheit im Physischen wie im Geistigen und Gesellschaftlichen ist undenkbar ohne Abstand.

Die Ferne verschönert, idealisiert, vereinheitlicht, integriert, bringt Wesentliches zur Anschauung, klärt durch Synthese, gleicht die Verzerrungen der übergroßen Nähe, der Analyse, aus.

„So wird alles in der Ferne Poesie: ferne Berge, ferne Menschen, ferne Begebenheiten, usw.“, sagt schon Novalis.

Der moderne Mensch vernichtet die Ferne und mit ihr das Ideal und die Freiheit. Die Vernichtung des Raumes wirkt die Vernichtung der Zeit – nicht ihren Gewinn. Sie bewirkt nicht Vereinheitlichung, sondern schablonenhafte Gleichmacherei. Sie bewirkt nicht Einheit, sondern schafft größere Reibungsflächen. Sie dient den Zwecken des Augenblicks, nicht den Idealen überzeitlicher Werke. Die Steigerung physischer Beweglichkeit geht Hand in Hand mit der Beschleunigung des Lebensrhythmus, so dass selbst die ‚gewonnene‘ Zeit unter den Fingern zerrinnt und den Menschen mehr zu ihrem Sklaven als zu ihrem Herrn macht.

Räumliche und zeitliche Ferne begünstigen Toleranz. Mit der Vernichtung der Ferne haben wir an Toleranz verloren. Wir gehen einem neuen Zeitalter der Unduldsamkeit und der Unfreiheit entgegen.

Was wir brauchen, ist eine neue Philosophie der Ferne: Distanz von uns selbst und von Anderen, synthetischer Fernblick anstelle zersetzender Analyse. Denn, um mit Ludwig Klages zu reden: „Was leistet der Verstand an allem, das er sich wirklich zu eigen macht? Er zählt, wägt, misst. Aber was geschieht dadurch dem Leben? Eben – die Entzauberung, positiv ausgedrückt ‚Verdinglichung‘. Was aber verdinglicht ist, kann betastet, umfasst, ergriffen werden, daher steht ‚begreifen‘ und ‚erfassen‘ für die Verstandesfunktion. Die Entzauberung der Welt besteht in der Tilgung ihres Gehaltes an Ferne.“