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Aurora. Ein Roman von José Sánchez de Murillo

Benedikt Maria Trappen

José Sánchez de Murillo: Aurora. Tiefe und Schönheit des Christentums. München 2021, ISBN 978-3-945732-30-4, 249 S., 19,90 €

Tote sind gegenwärtig und sprechen zu den Lebenden. Die Großen der Theologie und Philosophie vieler Jahrhunderte versammeln sich und erkennen mit den Augen der Abgeschiedenen aus der Ewigkeit ihre Begrenztheit, ihre Irrtümer und Fehler. Die abendländische Geschichte zerbricht an der Dominanz männlicher Macht, Intellektualität, Technik und dem Mangel an Liebe und Mitgefühl. Umkehr tut Not. Und einige wenige, denen der Sinn des Lebens aufgegangen ist, initiieren ein Projekt zur Erneuerung des Lebens und der Rettung der Welt: die Aurora-Burg.

Unter dem nachhaltigen Eindruck der Corona-Pandemie und der Klimakrise erzählt der inzwischen achtzigjährige Philosoph, Theologe, Priester und Dichter José Sánchez de Murillo noch einmal neu, was seit Jahrzehnten Anliegen seines Forschens und Lebens ist: Wie das Christentum anders verstanden und gelebt werden kann. Anders, das bedeutet vor allem: von der Tiefe des Menschseins her und unter Berücksichtigung des Weiblichen, das in einer von Männern geprägten Kirche zumeist unterdrückt und deformiert wurde. Leben, Menschwerdung ist der Sinn des Lebens, und die dem Jesus-Phänomen angemessene anthropologische Auslegung der christlichen Religion, die letztlich unsagbar bleibt, kann nur gelebt werden kann. Dazu bedarf es allerdings des Männlichen und des Weiblichen, aus deren Vereinigung das Menschliche hervorgeht.

Und in der Liebesgeschichte des Priesters Paul-Benoît de Saint Marie und der Journalistin Inès Saldupont, die eine in den Strukturen der katholischen Kirche unmögliche Liebesgeschichte leben, deutet Sánchez offensichtlich den Teil seiner Lebensgeschichte an, den Leser zwar längst geahnt haben, zu dem sich zu bekennen ihm bislang aber nicht möglich war. Eingebettet ist diese Erzählung in die fiktive Geschichte des Papstes Bonaventura, der sterbend seine Einsicht in das Scheitern der katholischen Kirche und des Papsttums mit der Weltöffentlichkeit teilt und verfügt, dass das Konklave erst nach einer Zeit der Einkehr und Besinnung zur Wahl eines neuen Papstes zusammenkommen darf. Die Liebenden beschließen in dieser Übergangszeit die Gründung einer Burg als eines unabhängigen, jedem Menschen offenstehenden Klosters mit interdisziplinärem Forschungszentrum zur Erneuerung des Christentums und des Lebens. Als Grundlage dient die auf den Philosophen Jakob Böhme zurückgehende Tiefenphänomenologie, die eine tiefdichterische Wissenschaft ist, in deren Mittelpunkt der Lebensgeburtsprozess steht. Im Grunde des Seins brennt eine Sehnsucht, die sich nach Freiheit, Erlösung sehnt, nach Fülle, Stillung, Ruhe und die den Menschen aus sich heraus, über sich hinaustreibt. Sein ist Werden. Wesen ist gewesen sein.

Sánchez lässt viele Männer und Frauen der Geistesgeschichte zu Wort kommen, von den Vorsokratikern über Thomas von Aquin, Theresa von Avila, Mechthild von Magdeburg,  Pascal, Descartes, Kant, Hegel bis Nietzsche, Sartres und C.G. Jung, denen allerdings weitgehend bescheinigt wird, zwar manches richtig gesehen, nie aber zureichend formuliert und schon gar nicht gelebt zu haben. Es gehe aber nicht darum, die Welt immer wieder neu zu interpretieren, sich an Ideen und Theorien zu berauschen, sondern darum, sich selbst zu ändern und anders zu leben. Das Projekt der Erneuerung muss daher lebensgeschichtlich fundiert sein. Meditation, Selbsterforschung, Selbsterkenntnis, Selbstannahme, Stille und Gebet stehen im Mittelpunkt, nicht Begriffe, Ideen und Theorien.

Dieser therapeutische Ansatz schließt Körperarbeit, Atembewusstsein, Bewegung und gesunde Ernährung ein. Und statt Theorien zu erfinden, werden Lebensgeschichten erzählt, die im besten Fall märchenhaft sein können. Nicht Ideen werden gelehrt und weitergeben, sondern Erfahrung wird geteilt. Nicht über anderes wird geredet, sondern das je eigene Leben zur Sprache gebracht. Am Ende wird der einst junge Priester und Liebende, der zum Mann und Vater wurde, ohne sein Priestersein aufzugeben, zum neuen Abt gewählt. Anstelle der vormals hierarchischen, von Männern dominierten Kirche gibt es nun Gleichgesinnte, die sich in kleinen Gruppen organisieren, gegenseitig helfen und bei der Menschwerdung unterstützen.

Mit dieser Erzählung hat Sanchez, der in früheren Büchern immer wieder eingehend die vielfältigen zeitgeschichtlichen Defizite diagnostiziert hat, nun auch konkrete Methoden aufgezeigt, die zu einem vollständigeren, heileren, menschlicheren Leben führen können. Gleichzeitig hat er seine eigene, in wesentlichen Teilen bislang verschwiegene Lebensgeschichte ins Reine gebracht und eine lebendige Vision davon entworfen, was Aufhebung der Religion bedeuten könnte. Dass auch seine Urteile über Zeitgenossen und historische Personen immer noch falsch, kurzsichtig und oberflächlich sein können und die von ihm zitierte Ahnenreihe der Tiefenphänomenologie unvollständig ist, versteht sich von selbst. Nicht zuletzt auch, weil östliche Autoren weitgehend fehlen, wenn auch darauf hingewiesen wird, dass Böhmes Denkweise die morgenländische und abendländische Kultur vereine.