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Denken und Intellekt

Lama Anagarika Govinda

  1. Stufen des Denkens

Um alle Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir uns darüber klar sein, dass es im Denken viele Stufen und Grade gibt: unterscheidendes Denken, begriffliches, ordnendes, zusammenfassendes Denken, um eines begrenzten Zweckes willen: dies ist die erste Stufe. Und in ihr wiederum ist das rein selbstische und das von selbstischen Motiven freiere Denken zu unterscheiden. Die nächste Stufe ist dasselbe Denken um eines unbegrenzten Zieles willen: der reine Wissensdrang (Philosophie und Wissenschaft). Die dritte Stufe ist das bildhafte, integrierende Denken; die vierte, das reine intuitive Schauen tiefster Versenkung oder ähnlicher schöpferischer Geisteszustände.

  1. Wert und Gefahr des Intellekts

Der Intellekt, der auf halbem Weg stehen bleibt, ist das größte Hindernis geistigen Fortschritts. Der Intellekt aber, der bis zum Ende seiner Fähigkeiten geht und seine eigenen Qualitäten und Grenzen erkennt, und somit sich selbst kritisch gegenübersteht, ist eine wertvolle Hilfe im geistigen Leben.

Er wirkt wie das Steuer eines Schiffes. Aber wie das Steuer nur wirken kann, solange das Schiff sich vorwärtsbewegt, und machtlos ist, wenn die Antriebskraft fehlt, so ist der Intellekt nur dann von Wert, wenn eine aus innerem Erleben gespeiste seelische Triebkraft hinter ihm steht, d.h., solange das Individuum geistig fortschreitet, über sich selbst oder seinen jeweiligen geistigen Standort hinausstrebt. Nur wo solche Bewegung besteht,  kann der Intellekt seine legitimen Funktionen erfüllen, nämlich zu ordnen, zu scheiden, kritisch auszuwählen, Richtung zu halten.

III. Gefahren der Einseitigkeit

Der Mensch, der nur seinen Emotionen lebt, ist wie ein steuerloses Schiff; der Nur-Intellektuelle wie ein Schiff ohne Antrieb, dessen Steuer keinen Widerstand, keinen Angriffspunkt findet und sich in bloßer Hinundherbewegung erschöpft, die man nur mit ‚geistigem Leerlauf‘ bezeichnen kann.

Der Mensch aber, dessen Intellekt auf halbem Weg stehen bleibt, ist einem Steuermann zu vergleichen, der sein Steuerrad nur nach einer Seite dreht und dessen Schiff daher nur im Kreise läuft. Dies ist der Intellekt des Durchschnittsmenschen.

  1. Denken bis zur Grenze

Das Heilmittel hierfür ist aber nicht, den Intellekt über Bord zu werfen, sondern einen volleren, weniger einseitigen Gebrauch von ihm zu machen, ihn aus dem Geleise des gewohnten zu befreien und bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu gehen. Hierdurch brechen wir die Monotonie des tödlichen Kreislaufs, setzen uns in Beziehung zu allem Daseienden und finden schließlich den Mut an der Grenze des Denkbaren und Vorstellbaren den Sprung in die Ganzheit unseres eigenen Wesens zu wagen.