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Wir haben das alles längst gewusst

Benedikt Maria Trappen

Im katholischen Religionsunterricht eines saarländischen Realgymnasiums Mitte der siebziger Jahre lasen wir Jörg Zinks Gedicht Die sieben letzten Tage der Schöpfungund lernten Carl Friedrich von Weizäckers Kritik der Wissenschaftsgläubigkeit kennen. Ein lehrbeauftragter Pfarrer vermittelte uns anschaulich und eindringlich, wie unterschiedlich unterschiedliche Menschen Sterne betrachten und verstehen können, und Ludwig Feuerbachs Religionskritik war Thema der mündlichen Abiturprüfung 1980.

Die Anti-Atom-Bewegung steckte damals noch in den Anfängen, und Die Grünen hatten sich gerade als Partei gegründet. Wir klebten Anti-Atomkraft Aufkleber auf unsere alten Autos, begannen begeistert zu studieren, hatten Beziehungen, reisten durch Europa und ahnten irgendwie, dass die Lösung der gesellschaftlichen Probleme mehr mit uns zu tun haben könnte, als uns lieb war.

Rudolf Bahro war kaum mehr als ein Name, der zwar gelegentlich zu lesen oder zu hören war, uns aber weder zum Lesen noch zur Besinnung brachte. Elemente einer neuen Politik (1980), Logik der Rettung (1987) und Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit (1995) las ich erst Jahrzehnte später, nachdem Bahro mir durch Jochen Kirchhoff persönlich bedeutsam geworden war. Ähnlich, wie in Norman O. Browns Love’s Body verbinden sich in seinen Schriften Sozialismus, Ökologie, Feminismus, Psychoanalyse, Wissenschaftskritik, Philosophie, Religion und Spiritualität konstruktiv und inspirierend im Plädoyer für einen neuen Menschen und die Treue zur Erde – wie schon Nietzsches große Forderung und Mahnung im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert lautete.

Heute müssen wir ernüchtert zugegeben, dass wir zwar schon lange vieles gewusst haben und vieles abzusehen war, wir unser Verhalten, unsere Lebensweise – uns selbst – aber in all den Jahren kaum geändert haben. Diese Tatsache, dieser Widerspruch, der Pfahl im Fleische sozusagen, den wir nicht einfach abschütteln und loswerden können, die Beharrlichkeit des „alten Menschen“ wider besseres Wissen, Wünschen und Wollen, entschuldigt uns nicht, kann aber all denen eine Warnung sein, die heute – zu Recht – Änderungen dringend fordern.

Niemand wird die Erde retten, der nicht zuvor sich radikal in Frage gestellt und gewandelt hat. Der Schlüssel zur Rettung ist nicht der Protest, nicht die lautstarke Forderung, auch keine Idee, sondern – der Verzicht und die geduldige Arbeit an sich selbst.

Hermann Hesse gehört zu denen, die das gewusst und schmerzlich gelebt haben, wie in unseren Tagen André Heller, Reiner Kunze, José Sánchez de Murillo, Martin Spura, Patrick Roth und Peter Handke, um einige zu nennen. „Wir haben die Erde gekränkt, sie nimmt ihre Wunder zurück. Wir, der Wunder eines“, heißt es in Kunzes Gedicht „Unter sterbenden Bäumen“ (1983). Und André Heller sang 1982: „Dieser Stern ist uns doch nur geliehen, von Künftigen, die nach uns sind“, und forderte „Erhebet euch, Geliebte, wir brauchen eine Tat. Und eure tiefste Sehnsucht sei euer bester Rat.“ Seitdem hat sich wenig zum Besseren verändert.