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„Ich war und bin in allen Galaxien“ – Herrmann Nitsch – Ein Nachruf

Ernst-Steffen Blechkolbe

Am Ostermontag, den 18. April 2022, ist Herrmann Nitsch gestorben. Der 1938 geborene Künstler war ein zutiefst religiöser Mensch, wurde aber von vielen, die sich selbst als religiös verstehen, kritisch gesehen und nicht selten schroff abgelehnt. Einige Christen betrachteten sein Orgien-Mysterien-Theater als Blasphemie, griff es doch Motive der biblischen Symbolik und der katholischen Liturgie auf, stellte sie aber in einen Kontext, der sich durch inszenierte Exzesse als provokant und darüber hinaus als heidnisch charakterisieren lässt. Für europäische Buddhisten, die sich auf die Gewaltlosigkeit berufen und gegen das Töten von Tieren aussprechen, war Nitsch in der Regel, sofern sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen, im ethischen Sinn indiskutabel. Schließlich beinhaltet das Orgien-Mysterien-Theater die Schlachtung von Tieren und den Genuss von Fleisch.

Das Orgien-Mysterien-Theater (o. m.) ist ein Ritual, das sich über sechs Tage erstreckt und eine Katharsis bewirken soll, eine psychische Reinigung der Teilnehmer. Nitsch war von der überragenden Bedeutung dieser seiner Schöpfung derart überzeugt, dass sie ihm mehr als Kunst im herkömmlichen Sinn bedeutete. Die lange rituelle Feier sollte ihm zufolge „das grösste und wichtigste fest der menschen werden (es ist ästhetisches ritual der existenzverherrlichung). es ist gleichzeitig volksfest und zu bewusstsein gebrachtes mysterium der existenz. das fest des o. m. theaters hat keinen anderen vorwand als die seinsmystische verherrlichung unseres hierseins. das fest treibt in richtung zu einem durch den menschen zu sich selbst kommenden sein.“

Entsprechend führt das Orgien-Mysterien-Theater den Menschen durch Leid, Grauen und Tod zu einer Auferstehung, die mit der grundlegend erneuerten Bejahung des Lebens einhergeht. Es sind die klassischen Elemente einer Einweihung. In diesem Sinn knüpft Nitschs Theater an antiken Mysterien an, die den Menschen durch Sterben und Neugeburt leiteten, um ihm die wahre Bedeutung seines Daseins bewusst zu machen. Herrmann Nitsch sprach in diesem Zusammenhang von „brutaler Zerstückelung und harmonisierender Synthese.“ Man denke an die Mythen und Mysterien der Isis, in welchen der Leichnam des Osiris in zahlreiche Teile zerrissen wird, welche die Göttin dann sammelt und wieder zusammensetzt.

Vom breiten Publikum wurden Nitschs Anliegen oft nicht in ihrer eigentlichen Bedeutung gewürdigt. Die Tatsache, dass das Hinabsteigen ins Perverse und Ekelerregende dem Bewussteren von Verdrängtem und der Läuterung zu einem neuen Leben dient, trat für viele Beobachter vor dem augenscheinlich Unappetitlichen zurück. So wurden viele der Aktionen Nitschs zu in den Medien zelebrierten Skandalen, die den Künstler als einen Provokateur erscheinen ließen, der er in seinem Selbstverständnis gar nicht war.

Rituale, die mit echten Tierleichen, Gedärm, Blut und Kot arbeiten und sich dabei noch religiöser Motive wie der Kreuzigung bedienen, galten in der Öffentlichkeit häufig als Tabubrüche, die man nicht tolerieren wollte. 1992 lehnte es der österreichische Bundespräsident Thomas Klestil ab, der Eröffnung einer Retrospektive des Werks von Herrmann Nitsch beizuwohnen, obwohl diese ein offizieller Beitrag seines Landes im Kunstpavillon der Weltausstellung von Sevilla war. Trotzdem blieben die Ehrungen nicht aus: 2005 erhielt Herrmann Nitsch den Großen Österreichischen Staatspreis für Bildende Kunst.

Lassen sich die vielfältigen Schöpfungen Nitschs mit Recht als Kunst bezeichnen? Die Frage bezieht sich auf die Kategorie der Kunst und zielt nicht auf eine qualitative Wertung. Zweifellos gehören seine Rinn- und Schüttbilder, die Ritual-Partituren, seine Kompositionen und Aktionen sowie der explizite Versuch, mit seinem Theater ein Gesamtkunstwerk zu verwirklichen, in diese kulturelle Kategorie. Als Kunst hat man diese materiell greifbaren Aspekte aus Nitschs Werk darum durchaus begründet eingeordnet.

Doch lässt sich fragen, ob dieses Etikett tatsächlich taugt, um den innersten Anliegen Nitschs gerecht zu werden. Der Versuch, Menschen zu wandeln, indem man sie durch Tod und Auferstehung zu einem neuen Leben führt, ist in erster Linie ein spirituelles Unternehmen, weshalb man die Arbeit, die Nitsch leistete, ebenso unter der Rubrik Religion betrachten könnte. Im Grunde wird wohl weder der Begriff der „Kunst“ noch jener der „Religion“ dem vollständig gerecht, worum es Nitsch ging. In seinem Werk kündigt sich wie in vielen kreativen Versuchen der Moderne ein Neues an, für das uns die angemessenen Bezeichnungen noch fehlen.

Inspiriert war Nitsch aus vielfältigen Quellen, zu denen das antike Heidentum und Friedrich Nietzsche ebenso zählen wie der Surrealismus und hier besonders Antonin Artaud. Dazu kommt das Christentum, das die Bedeutung des Opfers und die Symbolik des Blutes zentral stellt. Ebenso beeinflussten Nitsch Ideen asiatischen Ursprungs, darunter der Daoismus und der Buddhismus. In einem Interview, das der österreichische Journalist Michael Fleischhacker 2003 mit Nitsch anlässlich seines 65. Geburtstages führte, sagte der Künstler: Beim „Zen-Buddhismus, ist das ja gerade der Kern, dass die Transzendenz ins Hier und Jetzt hereingerissen wird durch die Erleuchtung. Ich trenne nicht zwischen Immanenz und Transzendenz.“ Und er ergänzte, dass der Erleuchtete im Zen-Buddhismus „sich über die Mystik erhaben fühlt, weil er das So-Sein der Welt und der Natur erkennt, quasi in einem über-intellektuellen Sinn durchschaut.“

In einem praktischen Sinn tiefer verwandt als dem Zen ist Herrmann Nitschs Werk zweifellos dem tantrische Buddhismus, der ebenfalls Rituale der Grenzüberschreitung kennt, in denen die Symbolik von Kot, Blut und Fleisch eine wichtige Rolle spielt. In Nitschs Ritualen greifen Menschen mit bloßen Händen in noch warme Tiereingeweide, rinnt Tierblut in die Münder der Teilnehmer und das Gedärm von Rindern wird auf ihre Genitalien gelegt.

Man hat Herrmann Nitsch im Hinblick auf seine Bezüge zur buddhistischen Tradition, auf seinen genussvollen Lebensstil und auf seinen Wohnsitz auf einem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf einen „Weinviertler Barockbuddhisten“ genannt. Er selbst bevorzugte es, als der „Weinviertler Dionysos“ bezeichnet zu werden. In seinem Werk lassen sich Spuren von beiden auffinden, vom Bewusst- und Wachwerden eines Buddha und vom griechischen Gott der Freude, des Weines und der Reben, der Fruchtbarkeit und der Ekstase. Nitsch hat davon gesprochen, dass es Augenblicke gab, in denen er sich zu einem besonders intensiven Grad als existierend empfand: Dann „bin ich alles – jeder Baum, jedes Tier, jeder Mensch, das ganze Sein. Ich war und bin in allen Galaxien.“ Genau da wird er bleiben!