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Handkes Tag- und Nachtbücher des Unterwegsseins

Benedikt Maria Trappen

Peter Handke: Innere Dialoge an den Rändern 2016 – 2021. Salzburg 2022. 372 S.  ISBN 978-3-99027-263-3; 26 €

Schon der erste Eintrag greift auf und führt fort, was Handkes Journale seit Jahrzehnten ausmacht: Es sind gesammelte Augenblicke der Wahrnehmung, der Erinnerung, des Gedenkens, vor allem aber Selbstgespräche der Seele mit sich selbst. Gelesenes, Gehörtes, Gesehenes, Gedachtes fließt ein.  Sprach-Reflexionen. Immer wieder auch Und-Gedichte und Aus der Nacht Gesprochenes, eingebettet in das liturgische Jahr, das für Handke seit Langem „die Andere Zeit“ evoziert, die Gegenwart und Vergangenheit verbindet, in die einzutauchen, die zu leben mehr und mehr Sinn seines Lebens zu sein scheint im unablässigen Bemühen, ganz und wahr zu werden, ein staunender, weltoffener, liebender, freudvoller, geduldiger, lichtvoller Mensch. Handkes Lebensweg erweist sich weiter als entschlossene Orientierung, Richtung auf das andere, die anderen hin, die es in ihrer Andersheit wahrzunehmen gilt. Und immer wieder ist es Goethe, dessen Werk und Lebensweg Handke seit Langem begleitet, neben alten griechischen und lateinischen Autoren, der Bibel, dem Koran, den großen Russen und zahlreichen anderen, auch zeitgenössischen, oft weniger bekannten. Eine Einladung, seinen Lese-Spuren zu folgen. Und so selten auch Zeitgeschichtliches, Politisches in Handkes inneren Dialogen auftaucht, weiß er doch um unsere erhebliche Gefährdung: „Wir Bedrohten. Wir auf des Messers Schneide. Wir Kippexistenzen.“  Handke ist kein Chronist der täglichen Katastrophen, die Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet überfluten. Er versteht sich als Chronist des Alltäglichen, des Überhörten, Übersehenen, nicht Wahrgenommenen, der Anderen Zeit, die eine andere Welt offenbart, die immer auch da ist, hoffnungsvoll, für die, die sich an die Ränder wagen, den engen Horizont ihrer Ichhaftigkeit weiten, überschreiten, ausschreiten. Das tägliche Gehen ist daher nach wie vor das Wichtigste, das geduldige Unterwegssein, die langsame Heimkehr. Auch, wenn sich Handke auf keine Lehre oder Richtung einengen oder festlegen lässt: Manches deutet darauf hin, dass er „auf dem Weg ist“, durchaus auch im buddhistischen Sinn. Bedingtheit, Leere, Form, Licht, Freiheit, aufs Ganze gehen, Niemand, Nichts, Reue, Es, Jetzt, Lassen, Ruhe, Respekt, Achtsamkeit gehören zu seinen Leitworten. Ein (un-) moderner Gralssucher, Parzivals Bruder, ein neuer Odysseus, auf der Schwelle zu einem anderen Leben, einer anderen Welt. Es empfiehlt sich daher, diese Notizen aus sechs Jahren langsam zu lesen. Und sicher ist es im Sinne Handkes, wenn sich der eine oder die andere davon inspirieren ließe, die eigenen Wahrnehmungen zu schärfen und zum Schöpfer, Autor der je eigenen Welt und Geschichte zu werden.