Benedikt Maria Trappen
„Are you looking for Bergman?“ fragte die junge Frau, die zuvor nackt im Meer gebadet hatte und nun mit ihrem Begleiter zum Strand hinaufkam. „I’m waiting for my husband,“ antwortete meine Frau, „he is looking for Ingmar Bergman.“ – „He ’s lost,“ erwiderte die junge Frau entschieden. – „Who? Bergman or my husband?“ – „May be both.“ Und ihr Begleiter fügte hinzu: „At least Bergman ist gone, for sure.“
Wir hatten das Grab Ingmar Bergmans auf dem Friedhof der Kirche Fårö besucht und danach mit dem Auto intuitiv den Weg auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingeschlagen. Das Haus Ingmar Bergmans mit den blauen Fensterhölzern liegt am Meer in der Nähe von Hammars. Es ist nur eingeladenen Gästen zugänglich und nicht ausgeschildert. Ein Anwohner bestätigte auf Nachfrage, dass das Haus in dieser Richtung liege, fügte aber hinzu, er wisse nicht, ob es erreichbar sei.
Wir fuhren weiter nach Hammars. Intuitiv folgten wir schmalen Wegen durch den Wald und standen schließlich vor einem Tor, das zu einem Haus führte. Das Grundstück war als privat ausgewiesen und wurde überwacht. Weiter unten parkten Autos. Ein Hund bellte. Ein Geocache in unmittelbarer Nähe bestätigte den Bezug zu Bergman. Nachdem wir den Cache gefunden und eingeloggt hatten, fuhren wir zurück, bogen in einen Waldweg Richtung Meer ein, parkten das Auto schließlich und gingen zu Fuß zum Strand weiter.
Ein niedriger, nach unten getretener, offenbar oft schon überstiegener Stacheldraht deutete darauf hin, dass der Übertritt, wenn auch nicht ausdrücklich verboten, zumindest unerwünscht ist. Ein sicheres Indiz, dass das Haus an diesem Strand zu finden ist. Ich überstieg den Draht. Meine Frau blieb mit unserer Tochter zurück. Kleinen und größeren Kieselsteinen folgten größere Steine und Felsen, die überklettert werden mussten. Altes Fischergerät lag zwischen Steinen, dessen Aussehen an Selbstschussvorrichtungen und Drohnen denken ließ. Eine Mauer am oberen Rand des Strandes grenzte das Grundstück ab, das wir zuvor von oben eingesehen hatten.
Ein Hund bellte, und ich entfernte mich sogleich weiter ans Meer. Da und dort hatte das Meer Hölzer, Taue und Reste von Netzen an den Strand gespült. Dann entdeckte ich oberhalb des Strandes in einiger Entfernung das Haus mit den blauen Hölzern. Hier also hatte er gelebt und gearbeitet, über diese Steine war er gegangen, diesen Blick aufs Meer, diese Bäume hatte er gesehen. Ich ging vorsichtig näher, fotografierte. Wolken türmten sich zu gewaltigen weißen Phantasiewesen.
Dann ging ich runter zum Strand, schaute eine Weile aufs Meer. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich einen Mann im weißen T-Shirt zügig Richtung Haus gehen. Umgehend machte ich mich auf den Rückweg. Der Hund bellte wieder, obwohl ich dicht am Meer ging. Ohne mich umzublicken, überstieg ich die Felsen und trat tief in den rutschigen Kies. Endlich sah ich meine Frau und Tochter in der Ferne, die mir nach Übersteigen des Zaunes von ihrem Gespräch mit den beiden jungen Menschen erzählten.
Wer Laterna Magica, Bergmans Autobiographie, liest, wird nicht mit ihm tauschen wollen. „Dämonen und andere Wesen ohne Namen oder Heimstatt umgeben mich seit meiner Kindheit.“ Bergman hatte Fårö 1960 auf der Suche nach einem Drehort für Wie in einem Spiegel entdeckt. „Eigentlich weiß ich gar nicht, was geschah. Wenn man es feierlich ausdrücken will, kann man sagen, dass ich meine Landschaft gefunden hatte, mein wirkliches Zuhause.“
Fårö entsprach seinen innersten Vorstellungen von Formen, Proportionen, Horizonten, Lauten, Schweigen, Licht und Reflexen. Dort fand er Geborgenheit und baute 1966 das Haus, in dem er zwei Jahre mit Liv Ullmann lebte, in die er sich während Dreharbeiten zu Persona verliebt hatte. Auch nach der Trennung von Liv blieb Bergman in Fårö. Dort wollte er sich von der Welt zurückziehen, die Bücher lesen, die er noch nicht gelesen hatte, meditieren und seine Seele reinigen.
Arbeitsnotizen finden sich auf Tischen und an Wänden. In einer alten, wieder aufgebauten Scheune richtete er sich ein Kino ein. Bergman, der fünf Mal verheiratet war und neun Kinder hat, lebte in diesem Haus mit seiner Frau Ingrid von Rosen von 1971 bis zu deren Tod 1995 und danach allein bis zu seinem Tod 2007. Mit Ingrid von Rosen verband ihn eine enge Gemeinschaft. „Der eine denkt, und der andere antwortet, oder umgekehrt.“ Ihren Tod fürchtete er als das Fallbeil, das irgendwann niedersausen und sie trennen wird. Den Augenblick der Trennung vermochte er sich nicht zu vergegenwärtigen. „Aus einem Jemand werde ich in einen Niemand verwandelt.„
Die Zeit nach ihrem Tod füllte er unter anderem mit dem Betrachten alter Fotografien, der Musik Johann Sebastian Bachs („Bachs Frömmigkeit lindert die Qual unseres Unglaubens.„) und der Lektüre der Tagebücher seiner Mutter. „Ich will keine Schuld zumessen. Ich bin kein Schuldeneintreiber,„ schreibt er rückblickend auf seine Kindheit. „Ich will nur wissen, warum unser Elend hinter der zerbrechlichen Mauer des gesellschaftlichen Prestiges so entsetzlich wurde.“ In ihren Tagebüchern findet Bergman, der sich danach sehnte, von der Gnade berührt und aus dem Gefängnis seiner Egozentrik erlöst zu werden, auch diesen Satz: „Ich bete zu Gott, aber ohne Zuversicht. Man muss schon selbst zurechtkommen, so gut man kann.“
Bildnachweis: Benedikt Maria Trappen (Fotos von Fårö); Nationaal Archif, Den Haag (Porträt Bergman).