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Lebenslinien

Benedikt Maria Trappen

Niemand weiß, woher solche Gewissheit rührt: Dass das Leben eine Bestimmung hat, ein Ruf ergangen ist, dem zu folgen ist, eine Aufgabe gestellt wurde, die es zu lösen gilt, eine Sehnsucht nach Erfüllung sich entzündet hat, der zu folgen einziger intuitiv geahnter Weg der Erlösung ist.

Und so gewiss diese Sehnsucht sich nach dem Absoluten sehnt, wird sie ihre Erfüllung immer wieder in anderem suchen, in Bildern, die sich mit unwiderstehlicher Kraft und Anziehung offenbaren.

Dem männlichen Leben verbirgt sich die Erfüllung in den Bildern des Weiblichen. Und dieser Weg der Sehnsucht, des sich Verliebens, der Idealisierung, des Begehrens ist eng verbunden mit dem Schöpferischen, mit Poesie und Dichtung.

Dieses Grundwissen ist uralt, überliefert in Mythen, Dichtungen, Erzählungen von der schöpferischen, erlösenden, ganz machenden Macht des Eros. Was sonst könnte einer, der diese Sehnsucht in sich spürt, werden wollen als Dichter, Philosoph, Künstler – Mensch…?

Mutter, Schwester, Nachbarsmädchen, Mitschülerinnen werden zu den ersten verlockenden Bildern der Sehnsucht, lassen eintauchen in den Zauber der Nähe, und die ersten Berührungen befeuern die Glut, das Begehren, die Phantasie… Freud hat all das in den Erinnerungen seiner Patienten ans Licht gebracht. Was für eine neue Welt offenbart sich dann Jahre später mit dem ersten Kuss, den ersten Zärtlichkeiten, der Erkundung des Körpers des anderen Geschlechts…

Was für ein glücklicher Zufall, wenn diese Offenbarung mit der Offenbarung der Welt des Geistes, der Bücher zusammenfällt. Ein kühler abgedunkelter Raum, der als Bücherei eines kleinen Ortsteils diente, erfüllt vom Geruch alter Papiere, stundenweise von zwei Mädchen geführt, wurde zum Tor in die erotische Dimension. Ein grob gestricktes Oberteil gab erstmals den Blick frei auf nackte Haut und kleine Brüste, und was von Aushängen des Kinos und Bildern in Zeitschriften bekannt war, wurde greifbar nah, Wirklichkeit. Verabredungen führten bald in die Natur, und aus inniger Nähe wurden vorsichtige Berührungen. Lippen, die einander suchen, um gleich wieder voneinander zu lassen, vorsichtig das Gesicht abtasten, sich wieder nähern, behutsam öffnen, nach einander strecken, greifen, Zungen, deren Spitzen einander entgegenkommen, sich spüren, schnell wieder zurückziehen, der erste Kuss, das Spiel der Zungen, das Spüren des Drucks, mit der die Zunge des anderen entgegenkommt, die Leidenschaft, die das Entgegenkommen nackter Körper später vorwegnahm, das Spiel der Hände auf der nackten Haut, das behutsam die kleinen Brüste, Rücken, Hüfte, Po und das zarte feuchte Geschlecht erkundeten: Was für ein Zauber, was für eine Innigkeit, was für eine Offenbarung… Und doch war von Anfang an mit dieser wunderbaren Erfahrung die Ahnung verbunden, dass diese Seligkeit nicht alles war und sein konnte, dass es ein Mehr und Darüber hinaus geben müsse, das erst die tiefste Sehnsucht stillt. Und diese Sehnsucht blieb fest mit dem Lesen und Schreiben verknüpft, der Poesie, dem Denken, der Philosophie.

Neben dem ersten Kuss ist mir ein anderer tief in Erinnerung. Ich war, sechzehnjährig, mit einer klugen und schönen gleichaltrigen Schülerin befreundet, von der ich mir vorstellen konnte, sie einmal zu heiraten. Eines Tages aber erweckte ihre Freundin meine Aufmerksamkeit, die, lockig mit Sommersprossen im knabenhaften Gesicht, mit mir im Leistungskurs Deutsch saß. Meinem Gefühl folgend, trennten wir uns einvernehmlich nach einem verständnisvollen klärenden Gespräch, und ich näherte mich ihrer Freundin an. Während einer Freistunde liefen wir Hand in Hand zur nahen Kapelle über der Stadt, und dort küsste sie mich so leidenschaftlich, innig, tief, wie ich das nie zuvor erfahren hatte. In diesem Kuss öffnete sich eine Welt, die größer und tiefer war, als alles bislang Bekannte. Umso schmerzlicher traf mich wenig später die Erkenntnis, dass sie einen älteren langjährigen Freund hatte, zu dem sie nach den Ferien zurückkehrte. Jahre später lernte ich, dass Erfahrungen, die Vorblicke in mögliche Welten ermöglichen, Initiationen genannt werden und in allen Kulturen der Welt bedeutsam sind.

Alle Verliebtheiten, Beziehungen, Freundschaften der nächsten Jahre blieben eng mit dem Schreiben verknüpft, gingen darin ein, und selbst Trennungen waren erträglich, weil die tröstliche und beseligende Möglichkeit des Schreibens erhalten blieb. Noch wusste ich nichts vom kosmogonischen Eros, vom Unbewussten, von Archetypen oder Kundalini Shakti. Erst der Verlust der Fähigkeit zum Schreiben zwang mich 1982 zur Rückwendung auf mich selbst und das schöpferisch Hervorgebrachte, zur Beschäftigung mit Psychologie, Psychoanalyse, Kreativität, Poetik, Hermeneutik und Ästhetik. Die Lehren Freuds und seiner Schüler, die allgemeine Neurosenlehre, Kohuts Theorie des Narzissmus, Kernbergs Borderline-Forschungen und schließlich C.G. Jungs analytische Psychologie, die ich gründlich in dem damals nach und nach bei Walther erscheinenden neunbändigen Grundwerk studierte, wurden zu Spiegeln, in denen ich mich erblickte und sezierte. Andere Autoren kamen hinzu, viele an der Schnittstelle von Psychologie und Philosophie wie Erich Fromm, Stanislav Grof und Ken Wilber, die dem akademischen Studium vornehmlich der Phänomenologie, Existenzphilosophie und Religionsphilosophie mit seinen Seminaren, Referaten, Hausarbeiten, Scheinen und Prüfungen eine dringlichere und lebendigere Welt entgegensetzten. Lama A. Govinda und D.T. Suzuki gehörten zu den ersten Autoren, die mir die östliche Geisteswelt öffneten, deren Faszination und Geheimnisse mich seitdem nicht mehr losließen.

Dass es Seligkeiten und Ekstasen jenseits des Schreibens und der erotischen Begegnung gibt, deren Intensität diese noch übertreffen und zur Erfüllung führen, wusste ich damals noch nicht. Ein Unfall 1983 ermöglichte auch diese Initiation. Und der gleichwohl immer wieder schmerzliche und verzweifelte weitere Weg führte mich 1989 schließlich scheinbar in eine ganz andere Richtung.

Jahrzehnte später am Grab Pierre Teilhard de Chardins im Culinary Institute of New York stehend, weiß ich beim Rauschen des Windes und dem Zwitschern der Vögel in der Vormittagssonne, dass der Weg in die Transzendenz durch die Immanenz führt, alles nutzend, alles übersteigend wie im Tantra. Der Himmel ist auch die andere Erde… und die sich in sich weitenden Spiralen nach oben – zur Sonne – windende Schlange, aus dem Individuellen ins Kosmische, Universelle durchbrechend, das Sinnbild des Lebens, der Entwicklung, Evolution, Transformation.

Als Sinnbild meines Weges entdeckte ich irgendwann das Labyrinth von Chartres. Kaum, dass man sich auf den Weg gemacht hat, scheint man die Hälfte des Weges schon hinter sich zu haben. Und nach wenigen Kehren, scheint es, steuert man unmittelbar auf die Mitte zu. Der Weg führt im Halbkreis weiter, immer dicht am Zentrum vorbei, dann entfernt er sich in Kehren allmählich wieder, um sich irgendwann dem Zentrum von der anderen Seite her anzunähern. So nah an der Erfüllung und doch nicht am Ziel… Im Gegenteil. Der Weg verläuft, immer in Kehren, weiter, immer wieder die Richtung wechselnd, führt scheinbar zurück auf den mittleren Radius und entfernt sich immer weiter, bis man sich fast am Ausgangspunkt wiederfindet, an der äußersten Peripherie… Lange folgt man der äußersten Bahn, alles, was doch schon so nah und beglückend war, scheint sinnlos und verloren. Allmählich nähert man sich schließlich dem mittleren Radius wieder, hin und wieder zurück führen die Kehren, scheinbar, und ein weiteres Mal enttäuscht findet man sich nach langer Zeit erneut an der äußersten Peripherie wieder, eben dort, so scheint es jedenfalls, wo der Weg vor langer Zeit seinen Anfang nahm…

Wer wäre angesichts dieser Odyssee nicht immer wieder versucht aufzugeben, das ersehnte Ziel, das Absolute, die Erfüllung, die Glückseligkeit, endgültig sein zu lassen? In dieser äußersten Verzweiflung, Verlassenheit, Einsamkeit, Mutlosigkeit trotzdem weiterzugehen, am zuvor immer wieder lebhaft Erlebten festzuhalten und den Glauben nicht zu verlieren, dass das Ziel erreicht werden kann, ist Kern der eigentlichen Prüfung. Die Richtung unbeirrt beibehalten, weitergehen, auch, wenn alles sinnlos und vergeblich scheint, nicht aufgeben in tiefster Dunkelheit. Wenig später, scheint es, hat man, wie schon einmal zu Beginn, die Hälfte des Weges zur Mitte hinter sich, und wenige Kehren weiter mündet der Weg überraschend in der Mitte…

An welcher Stelle des Weges befinden wir uns? Jeder einzelne, aber auch die Epoche? Folgt jedes Leben dieser Landkarte? Oder zeigt sie den Weg der Generationen in Jahrhunderten, Jahrtausenden? Ist das Heil jedem einzelnen erreichbar? Oder eine ferne Utopie künftiger Menschen? Jahr für Jahr drucke ich dieses geniale, erfahrungsreiche Symbol der spirituellen Reise zur Selbstverortung auf Weihnachts- und Neujahrskarten und nutze es Tag für Tag zur Selbstbesinnung.

Dass, was ekstatisch und beglückend, unmittelbar, mit Gewissheit aufleuchtet, sich wieder entziehen und der Glaube daran, das Festhalten an dem zweifellos Erlebten fragwürdig und zweifelhaft werden kann, gehört zu den großen Rätseln und Geheimnissen des Weges.

Doch gibt es Erkenntnisse, Einsichten, auch über solche Erlebnisse, die helfen können. Die Einsicht zum Beispiel in den Unterschied zwischen klaren und deutlichen Ideen und nachfolgender Erfahrung. Das Denken, die Ideen leuchten voraus, öffnen den Raum des Möglichen, aber sie sind noch nicht die Verwirklichung, Erfahrung. Die Vor-läufigkeit der Denkerfahrung von der nachfolgenden Erfahrung zu unterscheiden, zu verstehen, dass der Mensch denkend sich voraus sein kann, ist eine von Heideggers fundamental bedeutsamen Einsichten in das Wesen der Metaphysik. Dass der Mensch im Nachdenken über Dinge, Sachverhalte, die seinen Horizont, seine Erfahrung übersteigen sich ausspricht, ist die andere fundamental bedeutsame Einsicht. Dasein spricht sich aus. Projektion ist der Schlüssel zum Selbst- und Weltverständnis. Die erste Einsicht geht auf Kant zurück. Die zweite finden wir bei Hegel, vor allem aber bei Feuerbach wieder: Dass der Mensch oder die Menschwerdung des Menschen Sinn und Ziel der Metaphysik ist. Dichten und Denken, künstlerische Tätigkeit überhaupt, ist der Weg der Symbolbildung, der Bewusstmachung des Unbewussten, die den Menschen zu sich selbst führt. Wir können auch sagen: zu Gott.

Diese Erkenntnis, die den Menschen wie ein Blitz trifft, überhell, plötzlich, mit unglaublicher Intensität, macht das Wesen der Aufklärung aus. Der Mensch ist Sinn und Ziel der Geschichte. Leben bedeutet die Möglichkeit, immer wieder über sich hinaus zu gelangen, unendliche Entwicklung, Erweiterung des Horizontes. Alles was geschieht ist symbolisch, bedeutsam.

Und so sicher diese Erkenntnis mythische und religiöse Vorstellungen auch entzaubert, öffnet sie wiederum den Weg ins Wunderbare, in die Erfahrung von Sinn und Zauber.

Heideggers Einsichten in Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, das Wesen der Metaphysik und seine Frage nach dem Sein fesselten mich, bevor mein Interesse an östlichem Denken erwachte, und es brauchte Jahrzehnte, bis beides zusammenfand.

Neben Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit war es der von Husserl geprägte Begriff der Intentionalität, der mein denkendes Forschen früh inspirierte. Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, und zwar immer sowohl Selbst- als auch Weltbewusstsein. Nichts existiert außerhalb dieses doppelten Bezuges. Subjekt und Objekt sind untrennbar miteinander verflochten, stellen eine duale Einheit dar. Diese magische Weltsicht offenbarte sich mir eines Tages mit überwältigender Gewissheit während eines Spazierganges mit einer Freundin an einem Weiher, der von bizarren Platanen umstanden war beim Betrachten der gezackten Blätter. Denken, Gebet, Meditation sind Techniken, Welt zu verändern, wenn man sie nur konsequent und radikal genug betreibt. Es gibt eine Tiefe, in der alles möglich ist. Alles ist mit allem verbunden. Welt ist nicht einfach außerhalb von uns vorhanden. Sie konstituiert sich Augenblick für Augenblick, ist – unsere – ständige Schöpfung.

Diese radikalen erkenntnistheoretischen Einsichten standen in erheblicher Spannung zu den alltäglichen Forderungen politischen Engagements und Handelns, die sich angesichts der vielfältigen Gefahren der Atomkraft, der Gefährdung der Natur und der globalen sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit Anfang der achtziger Jahre ergaben. Sie stürzten den jungen Dichter und Denker in eine radikale Krise, die verstärkt wurde durch die tief empfundene Ohnmacht des Einzelnen der Welt gegenüber, seine Hilflosigkeit und Ohnmacht in Anbetracht so vieler Bücher und Erkenntnisse der vorhergehenden Jahrhunderte und Jahrtausende und seine intensive Sehnsucht nach Erlösung, Befreiung.

Ein ekstatisches Erlebnis während eines Unfalls löste diese ungeheure Spannung, löschte die lebenslange Verstrickung ins Denken und Handeln und katapultierte mich in eine tiefe Ruhe und Seinserfahrung. Dieselbe Welt, derselbe Mensch und doch alles anders, neu. Wiedergeboren, auferstanden, erlöst, befreit. Der sich um sich drehende, in sich befangene Ich-Komplex ausradiert, die Welt offen, weit, Menschen, Dinge, Sterne nah. Der Himmel ist auch die andere Erde.

„Nun kannst du die Bibliotheken der Welt durchforsten und deine Erfahrungen im Wissen der Jahrtausende wiederfinden,“ hatte einer meiner Lehrer damals gesagt.

Descartes war der erste, dem meine vertiefte Aufmerksamkeit galt. Träume spielten in seinem Leben und Denken eine entscheidende Rolle. Durch alle Zweifel hindurch suchte er Gewissheit und fand sie in der unbezweifelbaren Tatsache seiner bewussten Existenz. Wer denkt, wer zweifeln kann, den gibt es, der ist und sei alles Leben auch nur ein Traum. Den von ihm berichteten, für den weiteren Verlauf seines Lebens bedeutsamen Träumen widmete ich meine erste Untersuchung.

Sich als Träumender der Tatsache des Träumens bewusst zu sein, verband Descartes mit Klarträumen, außerkörperlichen Erlebnissen und mit Gedichten Reiner Kunzes, dem ebenfalls die „hohe Kunst des Entkommens“ vertraut ist: „Zu träumen, dass ich träume.“ Kunzes Werk wurde gleichzeitig zum Spiegel hermeneutischer Erkenntnisse, die das Spätere im Frühen angelegt sehen und das Unbewusste als Grund der Poesie verstehen. Der eigentliche Sinn ist das Unbewusste, das sich lebenslang weiter erhellt und ausspricht. Dichtung als schöpferischer Weg der Befreiung, Menschwerdung. Dass auf diesem Weg ein Durchbruch vom Einzelnen ins Allgemeine, Universelle möglich und notwendig ist, zeigte ich in einer weiteren Untersuchung am Beispiel von  Kunzes Gedicht „Ankunft in meiner Stadt“.

Descartes sprach zudem vom „Fliegen“, das in Gestalt des Engels auch im Werk Reiner Kunzes wiederkehrt, aber auch in Beispielen Wittgensteins immer wieder Erwähnung findet und auf eine mögliche schöpferische Existenzweise deutet, deren Dimension mich faszinierte. „Über das Fliegen“ widmete ich daher eine dritte Untersuchung.

Dass das Leben seine Bedeutung erst im Rückblick erschließt, wusste schon Kierkegaard. Dilthey war er, der diese Dimension der Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Vergänglichkeit zum Hauptthema seines Forschens machte. Dass diese Wahrheit auch für ihn selbst gilt, auch das eigene Werk im Rückblick Bedeutungen erschließt, die sich dem Autor entzogen haben, veranlasste die vierte Untersuchung. Am Anfang und am Ende dieser vier Essays zitierte ich aus Hesses Glasperlenspiel, das mir in der wunderbaren Tiefzeit nach dem Unfall zu einem außerordentlichen Leseerlebnis geworden war.

In Nietzsche fand ich schließlich denjenigen, der hundert Jahre früher bereits solchen Ahnungen und Erkenntnissen in seinem Leben auf der Spur war. Die radikale Suche nach Wahrheit, sein Interesse an Dichtung, Träumen, Philosophie, Musik, die Sehnsucht nach dem Absoluten und die Gewissheit der Bestimmung, Berufung fesselten mich, und seine Briefe wurden mir zum Schlüssel zu seinem Leben und Werk. Reiner Kunze, dem ich die maschinengeschriebene Auswahl der Briefe zukommen ließ, bedankte sich für „das außerordentlich wertvolle Geschenk“ und fügte später besorgt hinzu: „Sie wollen doch nicht selbst ein Nietzsche werden?“

„Sie sehen etwas“ und „Erst die Pflicht, dann die Kür“ lautete die ernüchternde Resonanz meiner akademischen Lehrer. Kunzes ästhetische Essays erschienen 1989 ohne die von ihm zuvor erbetenen Zitate, und ich war wieder am Anfang angelangt.

Mit einer Arbeit über Heidegger, mit dessen Werk ich mich am gründlichsten beschäftigt hatte, wollte ich mein Studium nicht abschließen. Von Camus Philosophie des Absurden riet Frank Werner Veauthier in dieser kritischen Lebenssituation ab und empfahl schließlich Jaspers Nietzschebuch. Eine herausfordernde Aufgabe, die in besonderer Weise geeignet war, meine bisherigen Interessen und Forschungen zusammenzuführen.

Dass mein Weg eine ganz andere Richtung nehmen würde, war zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden. Noch vor Abschluss meines Studiums hatte ich mit dem zweiten Studium begonnen. Entwicklungspsychologie, die Geschichte der Pädagogik, Bildungstheorien und die im Kontext der „veränderten Kindheit“ bedeutsamen Stilleübungen  stellten Schnittstellen dar, die mir den Übergang leichtmachten. In einem Seminar über Gedichte in der Grundschule schrieb ich schließlich, fast zehn Jahre nach dem letzten, erstmals wieder ein Gedicht, eine Auftragsarbeit gewissermaßen, der allmählich, im Besonderen in existenziell schwierigen Zeiten, weitere Texte folgten.

Der Entschluss, den 1976 erlebten sexuellen Missbrauch durch meinen Onkel, katholischer Priester und Professor der Theologie, anzuzeigen und aufzuklären, führte 2010 zur erneuten (Online-) Veröffentlichung meiner 1980 entstanden Erzählung Der Neffe, mehreren Radio-, Presse- und Fernsehbeiträgen und schließlich zur Wiederbelebung meiner philosophischen und literarischen Kreativität. Dem Sumpf der katholischen Kirche nach der Entlassung meines Onkels aus dem Priesterstand nicht länger Zeit und Kreativität zu opfern, hat sich als rettend und richtig erwiesen, auch, wenn wichtige Fragen weiter ungeklärt waren und sind. Inzwischen wissen wir mehr über die Mitwisserschaft höchster Kirchenkreise in ähnlichen Fällen.

Die Ahnung, dass die in den Jahren 1980 bis 1983 an eine befreundete Schriftstellerin geschriebenen Briefe Bedeutsames enthielten, ließ mich später die Briefe dieser Jahre zurückerbeten. Beim Wiederlesen destillierte ich das Wesentliche heraus und verbrannte die Briefe anschließend am Rande eines Feldweges in Blieskastel, den ich während der Zeit ihrer Abfassung immer wieder gegangen war. Die Briefe aus der Unbewusstheit wurden meine erste wichtige Veröffentlichung in dem von dem Theologen und Philosophen José Sanchez de Murillo herausgegebenen Jahrbuch Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik. Mit Sánchez, der damals das Versprechen erbat, ihn niemals nach biografischen Dingen zu fragen, kam es später zum Zerwürfnis, als offenkundig wurde, dass seine Biografie von seiner Selbstdarstellung in wesentlichen Punkten abwich, die auch in der von mir mitherausgegebenen Festschrift Abschied vom Gewohnten unerwähnt geblieben waren. Die Zusammenarbeit mit Sánchez, dem Freund und späteren Biografen der Schriftstellerin Luise Rinser, die auf unsere Korrespondenz Mitte der achtziger Jahre zurückging, führte zu einer Studie über Luise Rinser und Ernst Jünger, der eine weitere Studie über Luise Rinser und Lama A. Govinda folgte, die durch zufällige Brieffunde im Literaturarchiv Marbach und die Bekanntschaft mit dem Vorsitzenden der Lama und Li Gotami Govinda Stiftung, Volker Zotz, angeregt worden war. Es folgten weitere Beiträge in Der Kreis, der Zeitschrift des von Lama A. Govinda gegründeten Ordens Ārya Maitreya Maṇḍala, die Mitarbeit an der Festschrift für Volker Zotz zum 60. Geburtstag und das Erscheinen des Buches Der Himmel ist auch die andere Erde mit einem Vorwort des Philosophen Jochen Kirchhoff, das von dem Saarbrücker Theologen, Philosophen und Kirchenkritiker Gotthold Hasenhüttl ausführlich rezensiert wurde.

2014 erschien die überarbeitete Fassung meiner vier Essays unter dem Titel Dasselbe, das ein anderes ist im Verlag der Luise-Rinser-Stiftung mit einem Nachwort von José Sánchez de Murillo. 2020 erschienen die beiden Nietzsche-Bücher im Wissenschaftsverlag Dr. Friedrich Pfeil. Die Veröffentlichung der frühen Gedichte und Prosa folgte 2022 in der Edition Habermann mit einem Nachwort von Martin Spura. Das Geheimnis des Baches, 2023 im Free Pen Verlag erschienen, versammelt neben bisher Unveröffentlichtem, darunter Essays über Karl Löwith und Heinrich Zimmer, Texte, die in den letzten Jahren in den Zeitschriften Ḍamaru, Evolve, Yoga aktuell und Buddhismus aktuell erschienen sind. Ebenfalls im Free Pen Verlag erschienen 2023 die seit 1991 geschriebenen Gedichte, illustriert von Holzschnitten Heinz Steins. Der Band, der Reiner und Elisabeth Kunze zum 90. Geburtstag im Mai und August 2023 gewidmet ist, enthält daneben z.T. bislang unveröffentlichte Rezensionen wichtiger Bücher u.a. von Heinrich Böll, Peter Handke und Reiner Kunze.

Als Schulleiter und Staatsbürger melde ich mich seit 15 Jahren immer wieder in Leserbriefen zu Wort oder werde zu bildungspolitischen Themen in der Regionalpresse befragt, zuletzt zur Raumnot an Schulen und den Plänen der Landesregierung zum inklusiven Unterricht. Mit Erreichen der Antragsaltersgrenze werde ich in zwei Jahren vorzeitig in den Ruhestand gehen. Die (digitale) Zukunft unserer Bildungsanstalten sehe ich nach mehr als 30 Jahren Schuldienst mit Nietzsche deutlich weniger hoffnungsvoll und vielversprechend als Medienwissenschaftler und Bildungspolitik. Der überraschenden Wegweisung 1989 bin ich allerdings immer noch dankbar. Ihr verdanke ich meinen Lebensunterhalt, die Begegnung mit meiner Frau und einen wesentlichen Teil der Altersvorsoge.