Lama Anagarika Govinda
Dualismus und Polarität sind zwei himmelweit verschiedene Begriffe, die leider weitgehend miteinander verwechselt werden – vor allem von jenen, die die Idee einer absoluten und allein als Realität betrachteten Einheit zum Ideal machen, demgegenüber alle Vielheit, Unterschiedlichkeit, Differenzierung und Individualisierung ein „Abfall“ von der absoluten Realität erscheint und zur bloßen Illusion herabgewürdigt wird. Der Unterschied zwischen Dualismus und Polarität besteht darin, dass Dualismus nur die unversöhnlichen Gegensätze sieht und zu einseitigen Wertungen und Entscheidungen führt, welche die Welt in ebenso unvereinbare Gegensätze auseinanderreißt, während Polarität aus der Einheit geboren ist und den Begriff der Ganzheit einschließt: die jeweiligen Pole ergänzen einander, sind untrennbar miteinander verbunden wie der positive und der negative Pol eines Magneten, die einander bedingen und nicht voneinander isoliert werden können. Der Denkfehler des Dualismus besteht darin, dass wir nur die eine Seite der Dinge oder der Lebensvorgänge akzeptieren wollen, nämlich diejenige, die unseren Wünschen und Idealen entspricht oder, mehr noch, unserem Haften am gegenwärtigen Zustand, unserem illusorischen „Ich“ und allem, womit es sich identifiziert.
(Aus Lama Govindas Einführung zu Martin Schönberger: Verborgener Schlüssel zum Leben. München und Bern 1973. © Lama und Li Gotami Govinda Stiftung, München.)