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Hegels Glaube an die List der Vernunft

Benedikt Maria Trappen

Es gehört zu den – Zeitgenossen wie frühere Epochen befremdenden und irritierenden -Grundüberzeugungen Hegels, dass es in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei und zugehe. Der Gang der Weltgeschichte scheint ganz offensichtlich anderes zu beweisen. Auch heute wieder erleben wir Kriege, Zerstörung, Vertreibung, Tod, Gewalt und es fällt uns schwer, Vernunft in diesen Ereignissen zu erkennen.

Für Hegel aber, wie übrigens für Goethe auch, für den das Negative, Verneinende, Zerstörende – Mephisto oder der Teufel – ein Teil von jener Kraft ist, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, stellt die Weltgeschichte einen Stufengang dar, einen Kreislauf von Kreisen, der sich mit Notwendigkeit vollzieht und den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit vollbringt und zum Ziel hat. Weltgeschichte ist die Bühne, auf der einzelne mit dem Verfolgen partikularer Interessen und Leidenschaften unbewusst der Vorsehung und dem Endzweck der Freiheit dienen. „Dieser Endzweck ist das, worauf in der Weltgeschichte hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden.“(Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte).

Angesichts des unermesslichen Leids in der Geschichte, das bis heute andauert, kann man diese unbeirrbare Überzeugung, diesen Glauben zynisch finden. Solange die Geschichte aber nicht an ihr Ende gekommen ist, bleibt die Bedeutung der Ereignisse offen, und Hoffnung und Glaube an die sich in allen geschichtlichen Entwicklungen dialektisch entwickelnde Vernunft und Freiheit können zumindest nicht widerlegt werden.

Das Problem ist Philosophen wie Theologen von alters her vertraut. Es ist die Theodizee, die Frage nach dem Leid in der Welt und der Existenz Gottes. Entwicklung vollzieht sich nach Hegel nur, wenn Gewohnheit, Stillstand, Ruhe und Frieden immer wieder durchbrochen, Gegensätze wirksam werden. In den ernüchternden Worten Hegels klingt das so: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.

Die im Verborgenen wirksame Einheit von Freiheit und Notwendigkeit vollzieht sich, wie Nietzsche es später formuliert hat, jenseits von Gut und Böse. Was Recht und Unrecht ist, Gut und Böse, kann immer nur von begrenzten Standpunkten aus betrachtet und beurteilt werden, die einander widersprechen und entgegenstehen und daher immer nur relativ sind.

Für Alexander und Cäsar, Napoleon, Stalin und Hitler gilt wie für Gorbatschow und Putin und alle anderen Mitspieler auf der globalen politischen Bühne des Weltgeschehens: „Ein welthistorisches Individuum hat nicht die Nüchternheit, dies und jenes zu wollen, viel Rücksichten zu nehmen, sondern es gehört ganz rücksichtslos dem einen Zwecke an.“

Es widerstrebt uns allerdings nicht nur, politische Akteure durch solche teleologische Betrachtungsweise zu entschuldigen. Wie für jede Lebensphase – von der Kindheit, über Jugend, Erwachsenenalter bis zum Alter – neigen wir auch bei geschichtlichen Epochen dazu, Eigenständigkeit zu fordern und weigern uns, Sinn nur im Späteren zu sehen. Eindrücklich hat das Leopold von Ranke zum Ausdruck gebracht mit seiner Feststellung und Forderung, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. Heil, bedeutet das, liegt nicht erst am Ende der Zeit oder ganz außerhalb der Zeit, sondern es gibt in jeder Epoche einen Weg zum Heil.

Damit sind wir buddhistischen Überzeugungen nah. Nirvāṇa, ein Zustand jenseits der Gegensätze, ist im Saṃsāra, der Welt der Widersprüche und Erscheinungen, möglich und wirklich. Beide Betrachtungsweisen haben offensichtlich ihre Berechtigung und ihren Trost. Eine friedlichere und freiere, vernünftigere Welt kann aus Krieg und Zerstörung hervorgehen, wie der Phoenix aus der Asche. Aber wir sind Leid und Zerstörung auch nicht ohnmächtig und hilflos ausgesetzt. Für die Inder ist die Welt ein Traum, mal erfreulich, mal unerfreulich, immer aber Traum, Māyā, Illusion. Es gibt aber einen inneren Ort, einen Kern, eine Seinsweise, der wir uns bewusstwerden können und die uns in der Welt frei oder freier macht.

Die geschichtliche Wirklichkeit wird damit nicht aufgehoben. Aber wie wir im Traum zum Bewusstseins des Träumens erwachen können und von furchterregenden und lähmenden Bildern nicht mehr gefesselt und gelähmt werden, können wir auch in der geschichtlichen Wirklichkeit erwachen und freier und mutiger, liebevoller und verantwortungsbewusster leben und handeln.