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Der Regenbogen

Lama Anagarika Govinda

Der Regenbogen – obwohl ganz offensichtlich eine nicht-materielle Erscheinung – kann keineswegs als „Halluzination“ angesprochen werden, sondern ist eine objektive Gegebenheit. Er kann von allen mit Sehvermögen Begabten wahrgenommen werden, kann fotografisch festgehalten werden, und sein Zustandekommen durch Beugung und Brechung der Sonnenstrahlen an den Wassertröpfchen einer Regenwolke unterliegt berechenbaren Gesetzen. Die Millionen und Abermillionen sich ständig wandelnder Regentropfen erzeugen ein Phänomen, das über beträchtliche Dauer wie greifbar vor uns steht. So ist es auch mit unserem psychophysischen Organismus, der, obgleich aus einer unendlichen Zahl sich ständig wandelnder Partikeln bestehend, uns dennoch für einen beträchtlichen Zeitabschnitt materiell dauerhaft erscheint.

Wollen wir jedoch genau sein, so müssen wir sagen, dass wir die „Materie“ ebenso wenig berühren und fassen können wie einen Regenbogen. Was wir als „Materie“ bezeichnen, ist nichts als ein Begriff, der durch Kombination von Sinneseindrücken als Abstraktion in unserem Gehirn entsteht, hervorgerufen durch die über das Sehen wahrgenommene Erscheinung einer zusammenhängenden Oberfläche, von Widerstand (Härte oder Weichheit), zeitlicher Dauer und so weiter. Durch Koordination und Abstraktion dieser Sinneseindrücke kommen wir zur Vorstellung von der Existenz dessen, was wir „Materie“ nennen. Diese so in Abhängigkeit entstehende Wahrnehmung materieller Existenz würde für Kräfte, die ohne Widerstand durch sie hindurchwirken könnten, nicht existent sein. Und dennoch ist Materie keine bloße Fiktion unseres Geistes, sondern ebenso wirklich wie der Geist, der sie erfährt und der die Gesetzmäßigkeiten erkennt, in deren bedingter Abhängigkeit sie wahrnehmbar wird.

So ist der Regenbogen ein Symbol für die flüchtige Schönheit der Menschenwelt, in deren Vergänglichkeit sich ewige Gesetze manifestieren, die immer erneut das Wunder des Daseins erschaffen. Mit anderen Worten: Der Regenbogen wird zum Symbol des nichtfassbaren Wesens der Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, die uns in unserer Welt der scheinbar festen Dinge und harten Fakten entgeht. Er ist ein Phänomen, das immer wieder tiefe Gefühle in uns wachruft, selbst wenn wir es schon tausendmal gesehen haben. Es ergreift uns mit Staunen und erfüllt uns mit Freude und Bewunderung, wenn nicht sogar mit religiöser Ehrfurcht, oder es wird uns zu einem Omen von tiefster Bedeutung.

Gleichzeitig aber ist der Regenbogen eine Brücke zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Fassbaren und dem Unfassbaren, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, wie auch eine Tür, die in die Welt der Mysterien führt – ein Tor in die Welt der Imagination und Märchen. So ist der Regenbogen eines der bedeutendsten archetypischen Symbole, das überall da auftaucht und geschätzt wird, wo menschliche Wesen in Gedanken und Rede, in Kunst und Religion, in Gesang und Dichtung nach Ausdruck suchen.

Im Alten Testament ist der Regenbogen das Symbol des Bundes zwischen Gott und Mensch, zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen dem universellen Gesetz und dem moralischen Gesetz des Menschen. Er ist das Symbol der Beständigkeit des Gesetzes, das sich in einer Welt unaufhörlichen Wandels offenbart. In seiner Schönheit und Farbstrahlung aber macht er auch deutlich, dass dieses Gesetz kein Gesetz des Zwanges, sondern der Harmonie ist, die unsere Alltagswelt verklärt, so dass selbst deren gewöhnlichste Seiten tiefste Bedeutung gewinnen.