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Es gäbe nicht mal mehr ein Grab

Benedikt Maria Trappen

Am 17. November 1983 ereignete sich gegen 15 Uhr in einer mit einer Krümmung von fast 160° bedenklich steilen Kurve der L 302 nahe der Ortschaft Dohrgaul im Oberbergischen ein Unfall, der auch tödlich hätte enden können. Der Fahrer, ein im September erst 22 Jahre alt gewordener Student der Philosophie und Germanistik, der sechs Tage zuvor einen subjektiv außerordentlich bedeutsamen und erregenden Text über Vernunft und Existenz geschrieben hatte, über den er am Tag zuvor mit einer befreundeten, deutlich älteren, philosophisch interessierten Schriftstellerin in der Nähe von Bonn gesprochen hatte und vor der Rückfahrt eine weitere, jüngere Freundin besuchen wollte, die mit dem Bus auf dem Weg in die nächst größere Stadt war, hatte allerdings Glück. Nicht nur überlebte er den Unfall mit traumwandlerischer Sicherheit. Auch heilten, allen Prognosen entgegen, die Brüche und Schnittverletzungen, auch am Hals, im Gesicht und in Augennähe, überraschend schnell und folgenlos.

Nicht nur das Erlebnis selbst, auch seine Nachwirkungen, waren so außerordentlich und wundersam, dass nichts seitdem das Glück, die Tiefe und Ruhe dieser Erfahrungen auch nur annähernd erreichen konnte. Das Leben hätte damals aber auch enden können. Man hätte den Leichnam in die Heimat des jungen Menschen überführt und auf dem Friedhof dort bestattet, vielleicht in der Nähe des Grabes einer drei Jahre zuvor ermordeten Freundin, das inzwischen nicht mehr vorhanden ist – wie das Grab einer anderen, 1993 im Alter von nicht einmal 30 Jahren an Mukoviszidose verstorbenen früheren Freundin auf einem anderen Friedhof in der Nähe.

Unzählige Begegnungen hätten seitdem nicht stattgefunden. Zahlreiche Tagebücher, Gedichte, philosophische, literaturwissenschaftliche und literarische Texte wären nie geschrieben worden. Intensive Freundschaften und Beziehungen hätte es nie gegeben. Zwei Kinder hätten das Licht der Welt so nie erblickt. Zahlreiche Gespräche hätten nie stattgefunden, viele Konflikte hätte es nie gegeben. Hunderte Briefe, tausende Emails, viele Essays, Rezensionen und Bücher wären nie geschrieben oder herausgegeben worden. Der Nachlass hätte damals niemanden interessiert.

Und ein in katholischen Kirchenkreisen hoch angesehener und geschätzter Theologieprofessor und Priester wäre wahrscheinlich im Amt geblieben und würde heute vielleicht sogar noch leben. Wir können uns nicht ausdenken, wie anders das Leben ohne uns verlaufen wäre, so vielfältig, filigran und weit verzweigt sind unsere Wirkungen und Spuren. Zahlreiche Kinder wären anders unterrichtet und erzogen, drei Schulen anders geführt worden. Jahrzehnte langen kollegialen Austausch, Konflikte, Entwicklungen und Lösungen hätte es so nicht gegeben. Und auch der Schulaufsicht wären mehrere Konflikte erspart geblieben.

Mit dieser letzten Bemerkung bin ich auf meiner imaginären Reise durch die Möglichkeiten eines anderen Lebens, einer anderen Welt ohne mich, der Gegenwart unverhofft nahegekommen. Und da eine weitere Einladung in die Höhle des Löwen zeitnah wieder bevorsteht, ziehe ich es vor, das Gedankenexperiment an dieser Stelle abzubrechen, das allerdings so etwas wie eine Linie oder Kurve, einen Kreis oder viele Kreise, eine Spirale mehr als einen roten Faden meines Lebens aufleuchten lässt, beruhigt und mit Gewissheit erfüllt.

Sollte das Leben nicht ohne mich noch eine Weile weitergehen, werden bis zum Herbst 2022 voraussichtlich drei weitere Bücher erscheinen und weitere Eintragungen und Fußnoten in das Buch meines Lebens eingehen. Wie und wohin auch immer die Reise noch weiterführen wird: Leser von Ḍamaru dürfen sicher hin und wieder daran Anteil nehmen, und dabei auch mehr noch aus deutschen Landen erfahren.