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Die Verwirklichung der Schönheit

Rabindranath Tagore

Dinge, an denen wir keine Freude haben, sind entweder eine Last für uns, deren wir uns am liebsten entledigen möchten, oder sie sind nützlich und stehen daher nur in vorübergehender und teilweiser Beziehung zu uns; sie werden lästig, sobald sie aufhören, nützlich zu sein. Oder aber sie sind wie wandernde Vagabunden, die nur einen Augenblick am Rande unsres Bewußtseins auftauchen und dann weiterziehen. Ein Ding ist nur ganz unser eigen, wenn es ein Gegenstand der Freude für uns ist. Der größte Teil der Welt ist für uns, als ob er nicht da wäre. Aber wir können es nicht so bleiben lassen, sonst schmälern wir uns selbst. Die ganze Welt ist uns gegeben, und all unsre Kräfte haben nur den Sinn und Zweck, daß wir mit ihrer Hilfe von unserm Erbe Besitz ergreifen.

Welche Aufgabe hat nun unser Schönheitssinn bei dieser Ausdehnung unsres Bewußtseins? Ist er da, um die Wahrheit in scharfe Lichter und Schatten zu zerlegen und in seiner unerbittlichen Unterscheidung von Schönheit und Häßlichkeit vor uns hinzustellen? Wenn dem so wäre, so müßten wir zugeben, daß dieser Schönheitssinn in unserm Weltall Zwietracht stiftete und eine Schranke aufrichtete auf der großen Verkehrsstraße, die alle Dinge miteinander verbindet.

Nein, so kann es nicht sein. Solange unsre Erkenntnis noch unvollkommen ist, ist es unvermeidlich, daß wir zwischen bekannten und unbekannten, angenehmen und unangenehmen Dingen unterscheiden. Aber trotz der Behauptung einiger Philosophen läßt der Mensch sich doch keine willkürliche und endgültige Grenze gefallen in der seiner Erkenntnis zugänglichen Welt. Jeden Tag dringt seine Wissenschaft tiefer hinein in die Region, die früher auf seiner Landkarte als unerforscht oder unerforschbar bezeichnet war. Ebenso ist auch unser Schönheitssinn unermüdlich damit beschäftigt, seine Eroberungen auszudehnen. Die Wahrheit ist überall, daher ist jedes Ding ein Gegenstand unsrer Erkenntnis. Die Schönheit ist allgegenwärtig, daher ist jedes Ding imstande, uns Freude zu geben.

In den frühesten Zeiten seiner Geschichte nahm der Mensch alles als Erscheinung des Lebens hin. Seine Wissenschaft vom Leben begann damit, daß sie einen scharfen Unterschied zwischen Lebendem und Nichtlebendem machte. Aber wie sie weiter und weiter fortschreitet, verwischt sich diese Trennungslinie immer mehr. Wenn wir anfangen zu begreifen, so helfen uns solche scharfen Trennungslinien; aber in dem Maße wie unser Verständnis sich klärt, verblassen sie und schwinden allmählich ganz.

Die Upanischaden lehren, daß alle Dinge durch die unendliche Freude geschaffen und erhalten werden. Um dies Prinzip der Schöpfung zu begreifen, müssen wir mit einer Unterscheidung beginnen, mit der Unterscheidung zwischen Schönem und Nichtschönem. Dann muß die Schönheit recht laut und heftig an die Tür unsres Bewusstseins klopfen, um es aus seiner ursprünglichen Lethargie zu wecken, und sie erreicht ihren Zweck durch die Stärke des Kontrastes. Daher zeigt sie sich uns zuerst in einem Gewand von bunten Farben, das durch seine Streifen und Federn, ja durch seine Verunzierungen auf uns wirkt. Aber je näher wir sie kennen lernen, desto mehr lösen sich die scheinbaren Misstöne in rhythmischen Wohlklang. Zuerst trennen wir die Schönheit von ihrer Umgebung ab, wir halten sie abseits von den übrigen Dingen, aber am Ende erkennen wir ihre Harmonie mit allem. Dann braucht uns die Musik der Schönheit nicht mehr mit lautem Lärm zu wecken; sie verzichtet auf Gewaltsamkeit und flüstert unserm Herzen die Wahrheit zu, dass es die Sanftmut ist, die das Erdreich besitzen wird.

Es gibt eine Stufe in unsrer Entwicklung, eine Periode in unsrer Geschichte, zu der wir versuchen, der Schönheit einen besonderen Kult aufzurichten und sie auf einen engen Raum zu beschränken, so daß nur wenige Auserwählte sich ihrer Gunst rühmen können. Dann erzeugt sie in ihren Verehrern Künsteleien und Übertreibungen wie bei den Brahmanen zur Zeit des Verfalls der indischen Kultur, als man den Blick für die höhere Wahrheit verlor und der Aberglaube ungehindert emporschoss.

Auch in der Geschichte der Ästhetik kommt eine Zeit der Befreiung, in der die Erkenntnis der Schönheit in großen und kleinen Dingen leicht wird und wir sie mehr in der anspruchslosen Harmonie des Alltäglichen sehen als in dem, was durch seine Besonderheit auffällt. Ja, wir müssen ein Stadium der Reaktion durchmachen, in dem wir bei der Darstellung des Schönen alles zu vermeiden suchen, was auf den ersten Blick gefällt oder durch die Konvention geheiligt ist. Dann sind wir versucht, das Alltägliche der alltäglichen Dinge trotzig zu übertreiben und sie dadurch herausfordernd unalltäglich zu machen. Um die Harmonie wiederherzustellen, schaffen wir Disharmonie, die ein charakteristischer Zug jeder Reaktion ist. Wir sehen im gegenwärtigen Zeitalter schon die Anzeichen solcher ästhetischen Reaktion, die beweisen, dass der Mensch endlich zu der Erkenntnis gekommen ist, dass nur die Begrenztheit seiner Wahrnehmung das Feld seines ästhetischen Bewusstseins scharf in Schönheit und Hässlichkeit scheidet. Erst wenn er die Kraft hat, die Dinge ganz losgelöst von allem Eigeninteresse und von den hartnäckigen Forderungen seiner Begierden zu sehen, erlangt er die volle Anschauung der allgegenwärtigen Schönheit. Dann erst kann er einsehen, daß das, was uns unangenehm ist, darum nicht unschön zu sein braucht, sondern daß seine Schönheit in seiner Wahrheit besteht.

Wenn wir sagen, dass die Schönheit überall ist, so meinen wir damit nicht, dass wir das Wort Hässlichkeit aus unsrer Sprache verbannen sollten; das wäre ebenso töricht, als wenn wir sagten, es gäbe keine Unwahrheit. Gewißlich gibt es Unwahrheit, aber sie liegt nicht im System des Weltalls, sondern in der Unvollkommenheit unsrer Erkenntnis. Ebenso gibt es Hässlichkeit als verzerrten Ausdruck der Schönheit in unserm Leben und in unsrer Kunst, der seine Ursache hat in unserm unvollkommenen Erfassen der Wahrheit. Wir können bis zu einem gewissen Grade unser Leben in Gegensatz stellen zu dem Gesetz der Wahrheit, das in uns ist und das in allem ist, und ebenso können wir auch Hässlichkeit erzeugen, indem wir dem ewigen Gesetz der Harmonie, das überall ist, widerstreben.

Durch unsern Wahrheitssinn erkennen wir das Gesetz der Schöpfung, und durch unsern Schönheitssinn erkennen wir die Harmonie des Weltalls. Wenn wir das Gesetz in der Natur erkennen, so gelangen wir zur Herrschaft über die Kräfte der Natur und werden mächtig; wenn wir das sittliche Gesetz in uns erkennen, so gelangen wir zur Herrschaft über uns selbst und werden frei. Und ebenso: je mehr wir die Harmonie in der Natur verstehen, desto mehr nimmt unser Leben an der Freude der Schöpfung teil, und desto wahrer und universaler wird der Ausdruck der Schönheit in unsrer Kunst. Je mehr wir uns der Harmonie in unsrer Seele bewußt werden, desto umfassender begreifen wir die Glückseligkeit des Weltgeistes, und der Ausdruck der Schönheit in unserm Leben strebt in Güte und Liebe dem Unendlichen zu. Dies ist das letzte Ziel unsres Daseins, dass wir uns immer bewusst sind: „Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit ist Schönheit“; wir müssen die ganze Welt in Liebe erfassen, denn aus der Liebe wird sie geboren, die Liebe erhält sie und nimmt sie wieder in ihren Schoß zurück. Wir müssen zu der vollkommenen Freiheit und Weite des Herzens gelangen, die uns die Kraft gibt, uns in das innerste Zentrum der Dinge zu versetzen und die Fülle der selbstlosen Freude zu kosten, die Brahma eigen ist.

Die Musik ist die reinste Form der Kunst und daher der unmittelbarste Ausdruck der Schönheit. Ja, wir empfinden die Offenbarung des Unendlichen in den endlichen Formen der Schöpfung selbst als Musik, als stumme, sichtbare Musik. Der Abendhimmel, der unermüdlich seine Sternbilder wiederholt, ist wie ein Kind, das voll Staunen über das Geheimnis seiner ersten Äußerung immer wieder dasselbe Wort lispelt und ihm mit nie endender Freude lauscht. Wenn in der Regennacht des Juli dichtes Dunkel die Wiesen bedeckt und der plätschernde Regen einen Schleier nach dem andern über die schlummernde Erde breitet, so ist diese Eintönigkeit des Regengeplätschers wie das tönende Dunkel selbst. Die düstre, dichte Baumreihe, die Dornensträucher, die aus der kahlen Heide auftauchen wie Köpfe von Schwimmern mit triefenden Haaren, der Geruch des feuchten Grases und der nassen Erde, der Kirchturm, der aus der undeutlichen Masse von Dunkel, das die Dorfhütten umlagert, emporragt, – alles sind Töne, die aus dem Herzen der Nacht aufsteigen und in dem einen Ton des unaufhörlichen Regens, der die Lüfte erfüllt, zusammenfließen und sich verlieren.

Daher entlehnen die wahren Dichter, die Seher, wenn sie das Weltall besingen, ihre Ausdrücke am liebsten der Musik.

Selten nehmen sie von der Malerei die Symbole für die Entfaltung von Formen, für das Zusammenfließen von Farben und Linien, das in jedem Augenblick auf der Leinwand des blauen Himmels vor sich geht.

Sie haben ihren Grund dafür. Denn der Maler muß erst Leinwand, Pinsel und Farbenkasten haben. Vom ersten Pinselstrich bis zur vollendeten Darstellung seiner künstlerischen Idee ist noch ein weiter Weg. Und wenn dann das Werk beendet ist, so ist der Künstler fort, das Bild steht verwaist da, die liebende Hand seines Schöpfers berührt es nicht mehr.

Aber der Sänger hat alles in sich. Die Töne kommen unmittelbar aus seinem Leben heraus. Sie sind nicht Stoff, den er draußen gesammelt hat. Sein künstlerischer Gedanke und sein Ausdruck sind Geschwister, sehr oft sind sie Zwillinge. In der Musik offenbart sich das Herz unmittelbar; es hat nicht unter der Sprödigkeit fremden Stoffes zu leiden.

Wenn daher die Musik auch wie jede Kunst auf ihre Vollendung warten muß, so offenbart sie doch bei jedem Schritt die Schönheit des Ganzen. Als Ausdrucksmittel sind selbst Worte Schranken, denn ihr Sinn muss erst durch das Denken erklärt werden. Aber die Musik bedarf keiner Erklärung; sie drückt aus, was Worte nie auszudrücken vermögen.

Und was noch mehr bedeutet, Lied und Sänger sind unzertrennlich. Wenn der Sänger scheidet, so scheidet sein Lied mit ihm; es ist ewig eins mit dem Leben und der Freude des Meisters.

Dieses Weltenlied ist keinen Augenblick von seinem Sänger getrennt. Es ist nicht aus fremdem Stoff gemacht. Es ist seine Freude selbst, die darin nie endend Gestalt annimmt. Es ist das Herz aller Herzen selbst, das sich in Musik durch das All ergießt.

In jedem einzelnen Ton dieser Musik ist eine Vollkommenheit, die die Offenbarung des Vollkommenen im Unvollkommenen ist. Kein einziger ihrer Töne ist vollendet, doch jeder spiegelt die Vollendung.

Was macht es, wenn wir den genauen Sinn dieser großen Harmonie nicht zu deuten verstehen? Ist es nicht, als wenn die Hand die Saite berührt und durch die Berührung ihren ganzen Wohlklang hervorlockt? Es ist die Sprache der Schönheit, die Sprache der Liebe, die aus dem Herzen der Welt kommt und geradewegs zu unserm Herzen geht.

Gestern abend stand ich allein in der Dunkelheit, die von Schweigen erfüllt war, und lauschte der Stimme des Sängers ewiger Melodien. Als ich mich schlafen legte, war mein letzter Gedanke, mit dem ich die Augen schloß, dass, wenn auch mein Bewusstsein im Schlummer schwindet, der Tanz des Lebens in der Arena meines schlafenden Leibes doch seinen Fortgang nimmt, im gleichen Rhythmus mit den Sternen. Das Herz pocht weiter, das Blut rinnt durch die Adern und die Millionen lebendiger Atome meines Leibes vibrieren im Einklang mit dem Ton der Harfensaite, die von der Berührung des Meisters erklingt.

(Redaktionell überarbeitet nach der Übersetzung von Helene Meyer-Franck)