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Das Leid in der Welt und die Liebe Gottes

Benedikt Maria Trappen

Wie kann es einen gütigen liebenden Gott geben, wenn diese Welt voller Leid, Zerstörung und Ungerechtigkeit ist? – Diesen, scheinbar unwiderlegbaren Einspruch erheben denkende Menschen seit Jahrtausenden. Die Sehnsucht nach Gott, die Hoffnung auf Gott, den Glaube an Gott konnten sie gleichwohl nicht aufheben. Ein Hinweis darauf, dass Religion an erster Stelle weder eine moralische Kategorie noch eine intellektuelle Angelegenheit ist. Eher schon eine Sache des Mitgefühls, der Menschlichkeit, die in der vielfältigen Zerstörung unserer Welt immer wieder gekreuzigt werden. Die Frage, die Sehnsucht, der Schrei nach Gott scheint eine anthropologische Konstante zu sein, etwas, das den Menschen in seinem Menschsein bestimmt, die Menschwerdung des Menschen ermöglicht. Nur der, der offen, verletzlich, mitfühlend ist, leidet am Unheil der Welt. Eine radikale Antwort auf die Frage nach dem Leid in der Welt und der Liebe Gottes, lautet daher: Es gibt das Leid in der Welt, weil Gott die Welt liebt.

In der indischen Spiritualität, die weniger rationale Antworten sucht und gibt, als Wege zur Erfahrung weist, spielt diese Frage eine untergeordnete Rolle. Während das Christentum unablässig um die Frage von Gut und Böse kreist, ohne – sieht man von mystischen Traditionen ab – eine zufriedenstellende Antwort zu geben, ist sich östliche Spiritualität intuitiv der notwendigen Zusammengehörigkeit der Gegensätze bewusst, die wechselseitig auseinander hervorgehen. Krieg und Frieden, Heil und Unheil, Geburt und Tod sind anders weder denkbar noch möglich. Nur im Licht des einen leuchtet das andere, so wie Yin im Yang und Yang im Yin eingeschlossen ist.

Das Leben ist wie es ist. Das Böse – Gewalt, Zerstörung, Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit – ist unvermeidbar, ob uns das gefällt oder nicht. Aber es stellt uns vor eine entscheidende Aufgabe: Die ungeheure Energie, die darin gebunden ist, zu befreien, zu erlösen; uns von Schmerz und Verzweiflung, Wut und Hass nicht überwältigen und mitreißen zu lassen, sondern das Negative durch Verletzlichkeit, Mitgefühl und Trauer geduldig in schöpferische Lebenskraft zu verwandeln. „Dem Negativen ins Angesicht schauen“ ist, nach Hegel, „die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ Was das praktisch bedeutet, welche erhebliche Anstrengung und Anforderung damit auf den Einzelnen zukommt, kann am ehesten ermessen, wer, um mit sich weiterzukommen, sich auf seinem Lebensweg auf die eigene leidvolle Geschichte zurückgewendet hat. Die existentielle Dramatik wird in den Worten Hegels deutlich: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheutund von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“ Den Ausweg aus diesem Labyrinth – dem Bardo, der Hölle – findet allerdings nur, wer zum Verzeihen findet. Verzeihen ist keine überlegene Großherzigkeit, die wir anderen gewähren, sondern der einzige Weg, uns selbst zu retten, die Trennung zu überwinden („Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“). Damit, um noch einmal Hegel zu zitieren, „die Wunden des Geistes heilen, ohne dass Narben bleiben.“ In diesem Sinn lässt sich auch die christliche Religion als Prozess der Menschwerdung verstehen, der immer wieder neu von jedem einzelnen vollzogen werden muss.  Eine ewige Wahrheit, für die es keine Stellvertretung gibt. Dass Gott Mensch wird, ist gleichbedeutend damit, dass der Mensch immer wieder Mensch wird. Darin können wir die anthropologische Grundkonstante jeder Religion sehen. Und die immer wieder behauptete Ausschließlichkeit, Exklusivität, Überlegenheit einer Religion über die andere, Grund zahlreicher Auseinandersetzungen und Kriege, löst sich vor diesem aufgeklärten Verständnis von Religion, das Glauben und Wissen in der Erfahrung versöhnt, auf.