Lama Anagarika Govinda
Die Wahrheit einer Religion oder Weltanschauung kann nie der Gegenstand eines Beweises sein – ebenso wenig wie die Existenz oder Nichtexistenz eines Gottes. Ein bewiesener Gott wäre ein endlicher Gott und somit seiner Göttlichkeit entkleidet. Ebenso wäre eine Religion, die sich beweisen ließe, ihres Unendlichkeitscharakters und somit ihres religiösen Wesens beraubt. „Ein bewiesener, als Tatsache angebeteter Gott wäre ein schlimmerer Fetisch als das Goldene Kalb,“ wie Keyserling einmal sagte.
Wahrheit besteht in der sinnvollen Koordinierung gegebener Erfahrungsinhalte im menschlichen Geist, also in einem schöpferischen Akt, dessen Wirklichkeits- und Wirkenswert (gleich dem eines Kunstwerks) von der vollkommenen, das heißt widerspruchslosen Übereinstimmung aller Komponenten miteinander und mit dem sich ergebenden ‚Gesamtbild‘ abhängt, denn die Idee des Ganzen darf bei der Darstellung des Einzelnen nie vergessen werden.
Von diesem Gesichtspunkt wird das Wort des Konfuzius verständlich: „Es ist nicht die Wahrheit, die den Menschen groß macht, sondern der Mensch, der die Wahrheit groß macht.“ Dementsprechend können wir sagen: Es ist nicht die Religion, die den Menschen groß macht, sondern der Mensch, der die Religion groß macht; denn es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, die uns zu besseren Menschen macht, sondern das, was wir aus der Religion machen, indem wir sie mit unserem eigenen Leben erfüllen und verwirklichen. Der Wert einer Religion erweist sich also nur durch das geistige und ethische Niveau ihrer Nachfolger.
[Illustration: Franz Carl Remp: Der Tanz um das goldene Kalb (Detail, 18. Jahrh.)]