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„…als wäre besonders die Pandemie mein neuer Meister.“

Muho Nölke

In Japan nennt man die Tage vom Ende des April bis zum Anfang Mai die „Golden Week“. Zwar kennt man hierzulande weder die Walpurgisnacht noch den Tag der Arbeit am ersten Mai und den Vatertag am Himmelfahrtstag sowieso nicht. Dafür reihen sich aber der Showa-Tag, der Tag der japanischen Verfassung, der Tag des Grünen und der Tag der Kinder dicht aneinander, und wenn einer von ihnen auf einen Sonntag fällt, verschieben sie sich alle um einen Tag. Dadurch hat während dieser Zeit im Jahr fast jeder Japaner die Gelegenheit, sich einmal für eine volle Woche frei zu nehmen und Urlaub zu machen. Deshalb haben wir jedes Jahr am Anfang des Mais ein Retreat in Antaiji, an dem Gäste aus aller Welt teilnehmen. Leider war es auch dieses Jahr nicht möglich, aus dem Ausland einzureisen, und wegen der steigenden Infektionszahlen wurde auch die japanische Bevölkerung gebeten, möglichst nicht wegzufahren, sondern die Zeit in den eigenen vier Wänden zu verbringen.

Obwohl es kein ausdrückliches Verbot gibt, hatten viele Restaurants und Läden geschlossen, und auch im Antaiji hatten wir uns entschieden, das Retreat – an dem auch ich eigentlich teilnehmen wollte – wieder abzusagen. Stattdessen bepflanzte die Sangha ganz unter sich die Reisfelder, und ich verbrachte die Woche mit meiner Familie in Osaka. Auch der große Rest der Bevölkerung hielt sich weitestgehend an die Bitte, zuhause zu bleiben, auch wenn sich viele darüber wundern, dass die Vorbereitungen auf die olympischen Sommerspiele weiterlaufen, so als gäbe es gar keine Pandemie…

Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige, der den Beginn des Ganzen vor einem guten Jahr auch als eine Chance verstand, auf globaler Ebene einmal eine Pause vom endlosen Lauf im Hamsterrad zu machen und über die Richtung des menschlichen „Fortschritts“ nachzudenken. Ein „globales Sesshin“ sei das, sagte ich damals. Zwar musste ich auf meine geplante Reise nach Deutschland und in die Schweiz im Sommer verzichten (bzw. diese auf dieses Jahr verschieben) aber dafür hatte ich so viel Zeit wie selten zum Nachdenken, Meditieren und um auf Fragen, die mir online gestellt wurden, einzugehen. Ein Resultat davon sind meine täglichen YouTube-Videos, die „Penetre & ich“-Übersetzung samt Audiobook und Kontakte zu vielen Menschen, die ich sonst wahrscheinlich nicht kennengelernt hätte.

Andererseits begann auch ich mich am Anfang des zweiten Jahres der Pandemie zu fragen, wie es jetzt weitergehen soll. In Japan sind die Infektionszahlen auch nach dem Ausruf des Ausnahmezustands vor der „Golden Week“ leider nicht zurückgegangen. Deshalb habe ich mich entschlossen, meine für den Sommer geplante Reise auch dieses Jahr wieder abzusagen.
Es fühlt sich für mich ein wenig so an, als bekäme ich am Ende eines einwöchigen Sesshins zu hören: Und jetzt sitzen wir einfach noch eine Woche! Und dann, nach der zweiten Woche, noch einmal…

Sawaki Roshi sagte einmal: „Erleuchtung hat keinen Anfang, Praxis hat kein Ende!“ Als ich vor 20 Jahren gefragt wurde, wer nach dem Tod meines Lehrers nun mein Meister sein würde, sagte ich: Meine Frau und Kinder und natürlich auch jeder meiner Schüler wird mein Meister sein! Heute fühlt es sich so an, als wäre besonders die Pandemie mein neuer Meister. Vielleicht genau der, den ich an diesem Punkt meines Lebens brauche? Denn ehrlich gesagt bin ich ein Stubenhocker!

Redaktionelle Bemerkung: Muho Nölke, der frühere Abt des Antaiji in Japan, spricht im obigen Beitrag seine regelmäßigen Videos an. Als Beispiel weisen wir auf Wie lauten deine Top 5 Buch-Empfehlungen? hin.