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Wissen wir nicht mehr, was wir wollen?

Birgit Zotz

„Wann immer ich gefragt werde, wie ich mir das Zustandekommen des existentiellen Vakuums erkläre, pflege ich auf folgenden Tatbestand zu verweisen: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muss; und dem Menschen von heute sagen keine Traditionen mehr, was er soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will.

Nur um so mehr ist er darauf aus, entweder nur das zu wollen, was die anderen tun, oder nur das zu tun, was die anderen wollen. Im ersteren Falle haben wir es mit Konformismus, im letzteren mit Totalitarismus zu tun.“ Viktor E. Frankl (In: Der Wille zum Sinn. Bern 2012, S. 13)

Diese Aussage Frankls entspricht absolut meiner Beobachtung: Warum haben Menschen, die stark in einen traditionellen Kontext eingebunden sind, in der Masse viel weniger Sinnkrisen? Dies fällt mir sowohl in meiner kulturanthropologischen Arbeit in Indien und Tibet auf, als auch in Gesprächen mit Frauen, die ihre Kinder in den 50er-60er Jahren großzogen. Unsere Großmütter, also.

Im Vergleich zu uns hatten sie oft harte Schicksalsschläge zu verarbeiten und lebten nicht im materiellen Überfluss. Sie hatten kaum Optionen im Leben: Mit etwas Glück, konnten sie sich für Lohnarbeit entscheiden oder dagegen.

Frauen dieser Generation erschien aber in der Regel ihr Leben nicht sinnentleert, ganz im Gegenteil: Sie sahen sehr viel Sinn in dem, was sie täglich taten, auch wenn es äußerlich betrachtet wenig spektakulär wirkt, z.B. den Haushalt zu führen und Kinder großzuziehen.

Optionen, die wir heute haben, ließen sich damals nicht mal erträumen: Sollen wir in Kinderbetreuungszeit noch ein Studium machen oder eine Weltreise? Ein Unternehmen gründen oder doch Selbstversorger werden? Versteht mich nicht falsch, das sind ganz tolle Möglichkeiten. Und ja, ich nutze sie auch. Aber auf welcher Grundlage treffen wir solche Entscheidungen?

Wissen wir, wie Frankl sagt, eigentlich gar nicht mehr was wir wollen? Und wollen wir dann das, was die anderen tun? Bzw. tun wir das, was die anderen wollen? Und wie finden wir unter diesen veränderten Rahmenbedingungen Sinn und eine Ausrichtung für unser Leben?

Ursprünglich hier veröffentlicht. Fotoporträt V.E. Frankl: Prof. Dr. Franz Vesely