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Nietzsche, Heidegger und das Weltspiel

Benedikt Maria Trappen

Der Freiburger Philosoph Jan Kerkmann, der, nebenbei gesagt, im alltäglichen Leben erfolgreich als Ultra-Marathon-Läufer unterwegs ist, hat bereits in seinen bisher vorgelegten philosophischen Forschungen Gründlichkeit und langen Atem bewiesen. Unter den wesentlichsten Nietzsche-Deutungen ist es vor allem die lebenslange, sich in Kehren und Wendungen vollziehende Nietzsche-Auslegung Martin Heideggers, der er sich akribisch und ausführlich zugewendet hat.

Mit der jetzt vorgelegten Studie zu Geschichtlichkeit und Lebensverständnis, die Heideggers 1938/39 erfolgte Auslegung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie“ zum Thema macht, fügt er sowohl seiner eigenen umfangreichen Studie, wie der bisherigen Forschungsliteratur nicht nur einen weitgehend übersehenen, philosophiegeschichtlich bedeutsamen Aspekt hinzu, sondern verweist auf einen Zusammenhang, der im Leben und Denken Nietzsches selbst von sowohl entwicklungsgeschichtlicher als auch systematischer Bedeutung war und ist: die Gerechtigkeit. Dieser, bei Nietzsche später im amor fati wiederkehrenden Erfahrung, hat Kerkmann bereits 2019 eine eigene, auf Heraklit, Nietzsche und Heidegger bezogene Studie gewidmet. Mit seiner ebenso historischen wie systematischen Ausrichtung berührt Kerkmann, der – auch mit existentiellem Interesse –  dem Zusammenhang der „Ewigen Wiederkehr“ mit dem „Willen zur Macht“ auf der Spur ist, eine Grundfrage des Denkens, die sich von den Vorsokratikern über Hegel, Schelling, Kierkegaard und Nietzsche bis zu Heidegger und Camus verfolgen lässt („Wir werden positiv […] Nichts mehr verneinen, da alles bejaht werden kann […] Den indischen Weisen und den europäischen Helden miteinander versöhnen.“).

Heideggers wiederholte kryptische Formulierungen von der „Gefährlichkeit“ und „Wesentlichkeit“ des Wissens, das nur „geschwiegen“, nicht „gesagt “ werden kann und erst recht nicht Gegenstand des „Geredes“ werden darf, weisen auf die bis heute problematische Aufgabe und Gefahr des Denkens und der akademischen Philosophie hin. In den Fokus gerät dabei aber auch die vor allem mit Hegel deutlich gewordene Frage, inwieweit das sich unvermeidlich in Widersprüchen vollziehende Denken affirmativ sein oder werden kann und darf.

Dass Nietzsche neben der Thematisierung der Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit, des Augenblicks, des Erinnerns und Vergessens in seiner berühmten zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Hegel ausdrücklich erwähnt und zur Sprache kommen lässt, wurde bislang offenbar weitgehend übersehen. Mit keinem anderen Denker hat Heidegger sich intensiver und gründlicher beschäftigt als mit Hegel, dessen berühmte, geschichtsphilosophisch wie rechtsphilosophisch denk- und frag-würdige Aussage „Das Wirkliche ist vernünftig und das Vernünftige ist wirklich“ Zeitgenossen und Generationen nach ihm beschäftigt und zum Widerspruch herausgefordert hat.

Kann und darf das Wirkliche, das Gegenwärtige, zeitgeschichtlich „Faktische“ – wenn es so etwas überhaupt geben kann -, dem Menschen in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit durchaus unvollkommen und ungerecht Erscheinende, bejaht werden? Gibt es eine Betrachtungsweise des Lebens und der Welt im „Licht der Ewigkeit“, mit den „Augen Gottes“, die die Welt als „Spiel“ sein lässt, wie sie ist? Kriege, Katastrophen, Terror, Vernichtungslager und offensichtliche globale Fehlentwicklungen eingerechnet? Im Fragment 102 des Heraklit heißt es: „Bei Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber halten einiges für gerecht, anderes für ungerecht.“ Auch G.W. Leibniz hielt unsere Welt für die „beste aller Welten“ und sah im Zusammenklang des Ganzen Harmonie und Schönheit.

Berührt wird dabei zugleich die grundlegende Frage nach dem Menschen als Subjekt, das nicht nur die Anlage hat, sich über sich hinaus zu entwickeln, sondern auch einen Bezug zum Sein, das sich dem Menschen als Grund epochaler Welterschließungen zugleich zuspricht und entzieht. Die Ambivalenz Heideggers Nietzsche gegenüber im Hinblick auf seine eigene zweifache Fragestellung – Was ist Metaphysik? Und die Frage nach dem „Sein als solchem“, dem „transcedens schlechthin“ – wird hier noch einmal deutlich und verständlich. Ist Nietzsche der „letzte Metaphysiker“ oder der „Überwinder der Metaphysik“? Hat er mit dem Aufweis und der Benennung der Phänomene des „Lebens“, des „Willen zur Macht“, der „plastischen Gestaltungskraft“, der „Ewigen Wiederkehr“ und des „Übermenschen“ eine weitere, vielleicht letzte Metaphysik geschrieben? Oder sind alle diese Benennungen lediglich unvermeidbare Wegmarken eines kreativen Prozesses, um den es im Denken und Philosophieren eigentlich geht: die Menschwerdung des Menschen? Diese Frage gilt bezeichnender Weise übrigens auch für Heidegger selbst.

Heideggers vielleicht bester und treuester, aber auch kritischster und am weitesten emanzipierter Schüler, Karl Löwith, hat diese Fragen in seinen Büchern tief und klug aufgegriffen. Besondere Bedeutung kommt dabei seiner Kritik einer möglichen „Heilsgeschichte“ zu, die nicht nur weltgeschichtlich, sondern individualgeschichtlich verstanden werden muss. Die „Phänomenologie des Geistes“ ist Landkarte und Beschreibung einer Reise, die jeder einzelne unternehmen muss.

Keine neue Dogmatik oder Metaphysik soll geschrieben, verkündet und geglaubt werden. Es wird nur skizziert und in Worte gefasst, was auf dem Weg notwendig aufleuchtet und in den Blick gerät und woran man, wie an den Wittgensteinschen „Leitern“ und den buddhistischen „Fahrzeugen“ nicht festhalten darf und soll, sobald das „andere Ufer“ erreicht ist.

Neben Hegel ist es übrigens Goethe, auf den Nietzsche verweist, der die entscheidenden Fragen und Phänomene dichterisch berührt und erfasst hat („Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist in dem die Zeiten sich bespiegeln.“- „Alles was geschieht ist symbolisch.“ –  „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“).  „Ewige Wiederkehr“ kann als Beschreibung des Prozesses gelten, in dem der „Ewige Sinn“ sich immer wieder neu gebiert, das Zukünftige aus dem Gewesenen schöpferisch hervorgeht, Horizontbildungen sich spiralförmig aufheben und erweitern; ein schöpferischer Prozess, der dasselbe immer wieder anders, neu hervorgehen lässt.

Mit seiner ebenso tiefgründigen, existentiellen wie akademisch akribischen, vorbildlichen Studie beweist Kerkmann erneut, dass er Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung nicht nur gelesen, sondern auch für sein berufliches Tun begriffen und beherzigt hat. Wir können gespannt sein auf das, was dieser junge Philosoph weiter vorlegen wird.

Jan Kerkmann: Geschichtlichkeit und Lebensverständnis. Heideggers Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung.  Biblioteca Academica Band 9, Ergon Verlag, Baden-Baden 2021; ISBN 978-3-95650-860-8

Illustration: Edvard Munch: Friedrich Nietzsche (1905/1906), Detail