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Der Große Buddha von Leshan

Thomas Wolter

Als weltweit höchste Statue des Altertums ragt im südlichen Sichuan bis heute eine monumentale Figur des Maitreya auf, bekannt als der Große Buddha von Leshan (樂山大佛). Die 71 Meter hohe und 28 Meter breite Skulptur wurde zur Zeit der Tang-Dynastie im 8. Jahrhundert an jenem Ort errichtet, an dem der Fluss Dadu He (大渡河) in den Min Jiang (岷江) mündet, dessen Wassermassen dann dem als „Jangtsekiang“ bekannten Chang Jiang (長江) entgegenströmen.

Die reißenden Flüsse bescherten der Schifffahrt immer wieder Turbulenzen und forderten viele Menschenleben. Im späten 7. Jahrhundert hatte der Mönch Hai Tong (海通) eine Vision des Maitreya, von deren Konsequenzen er sich mehr Sicherheit für die Flussschiffer versprach: Er sah den Buddha der Zukunft in einem Sandsteinmassiv beim Zusammenfluss des Dadu He und Min Jiang. Gelänge es, Maitreya sich an dieser Stelle für jeden erkennbar verkörpern zu lassen, so muss Hai Tongs Überlegung gewesen sein, könnte dieser sein segensreiches Wirken für die Flussschiffer entfalten. Auf Hai Tongs Initiative wurde darum im frühen 8. Jahrhundert begonnen, das gigantische Bildnis des Buddha der Zukunft aus dem roten Sandstein des Ufers zu schlagen.

Wie es heißt, sei es dem buddhistischen Mönch nicht nur um lokale Boote und deren Besatzungen gegangen. Er wollte dazu beitragen, die gesamte Binnenschifffahrt im Reich der Mitte vor Unfällen zu bewahren, indem der liebende Buddha der Zukunft sich in einem monumentalen steinernen Abbild manifestierte, das über den Wassern thronte. Maitreya sitzt in Hai Tongs Vision nicht mit untergeschlagenen Beinen und ineinandergelegten Händen, sondern nimmt die Bhadrāsana genannte Haltung ein: Die Beine des auf einem Sitz ruhenden Buddha stehen auf dem Boden; seine Hände liegen auf den Knien. Er ist also, wie Lama Anagarika Govinda im Vorwort zu Volker Zotz‘ Buch Maitreya schreibt, „nicht in Meditation versunken, sondern bereit, sich zu erheben, um der leidenden Menschheit Trost und Hilfe zu bringen.“

Die in verschiedenen Varianten überlieferte Legende sagt, dass Hai Tong zwanzig Jahre lang Geld sammelte, um das Projekt zu verwirklichen. Als man ihm die zusammengetragenen Mittel abnehmen wollte, habe er geantwortet, eher seine Augäpfel zu opfern, als das Projekt der Maitreya-Statue in Frage zu stellen. Daraus wurde in der weiteren Legende die vielleicht übertriebene Mitteilung, Hai Tong habe, als das Spendenaufkommen stockte, sich selbst die Augen ausgestochen, um seine persönliche Entschlossenheit und die überragende Bedeutung des Projekts zu demonstrieren.

Ob historisch wahr oder nicht, die drastische Erzählung von dem Mönch, der sich selbst seiner Sehkraft beraubte, um Maitreya sichtbar werden zu lassen, kann man als Parabel oder Gleichnis verstehen: Seine Vision der Gestalt des kommenden Buddha, die sich im Sandstein verbarg, wurde für Hai Tong wichtiger als alles, was ihm die äußere Welt an Wahrnehmungen bot. Er hatte in einer hoch aufragenden Sandsteinwand am Ufer eines gefährlichen Stromes den wohlwollenden und über alle Turbulenzen erhabenen Buddha der Zukunft erblickt.

Als ich erstmals von dieser Überlieferung hörte, dachte ich an die Vision des Maitreya, die Lama Anagarika Govindas in Ladakh erlebte und im Kapitel „Die Vision des Tschela“ in Der Weg der weißen Wolken beschrieb, wo es heißt:

„Warst Du es nicht,
der mir den Stein belebte
und aus der Wand
Dein Abbild treten ließ?“

Wie diese Begegnung mit Maitreya das weitere Wirken Anagarika Govindas bestimmte, war es Jahrhunderte früher schon bei Hai Tong der Fall. Beide hatten den liebenden Buddha hinter der Fassade der Wirklichkeit erblickt. Wäre es nicht eine Untersuchung wert, ob auch andere buddhistische Meister Maitreya, die personifizierte Liebe und damit die höchste Blüte des Lebens, in einer Wand aus totem Stein erblickten? Auf jeden Fall sind die Berichte von Hai Tong und Anagarika Govinda tiefe Gleichnisse dafür, dass sich in allem auch mehr sehen lässt, als es der bloße Sehsinn erlaubt.

Hai Tong wollte seine Vision auch für solche Menschen nachvollziehbar machen, die nicht wie er in die Tiefe der Realität schauen, sondern die materielle Form brauchen, um zu verstehen. Doch dafür waren erhebliche Summen nötig. Viele Arbeiter mussten ans Werk gehen, um das Abbild des kommenden Buddha aus dem Felsen zu schälen, denn ungeheure Massen an Sandstein waren abzutragen.

Das Werk war vom Kopf bis zu den Schultern gediehen, als Hai Tong starb. Durch den Wegfall des geachteten Mönchs blieben die Mittel zur Fortführung zunächst aus. Dann konnten seine Nachfolger einen hohen regionalen Beamten als Förderer gewinnen. Doch als man die Skulptur bis zu den Knien verwirklicht hatte, wurde der Wohltäter befördert und versetzt, worauf das Projekt erneut stillstand. Als es nach sieben Jahrzehnten noch immer unvollendet blieb, nahm sich der Militärgouverneur Wei Gao (785-805), damals eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes, der Sache an. Die Skulptur konnte schließlich 803, noch zwei Jahre vor Wei Gaos Tod, fertiggestellt werden. Außer den sieben Meter langen Ohren, die man aus mit Lehm versiegeltem Holz modellierte, besteht sie ganz aus rotem Sandstein.

Das Herausschlagen der riesigen Figur ergab über die neun Jahrzehnte der Verwirklichung ungezählte Kubikmeter an gebrochenem Sandstein. Indem man diese im Wasser unmittelbar davor entsorgte, milderte die Manifestation des großen Buddha durch den Schutt, den sie verursachte, tatsächlich die Wildheit des Stroms. Dass zu Füßen des gigantischen Maitreya die Schifffahrt sicherer wurde, schenkte den in Chinas Binnenschifffahrt beschäftigten Menschen Zuversicht und Hoffnung. Auf diese Weise hatte – abgesehen von spirituellen Aspekten – das Projekt der großen Maitreya-Statue eine heilsame Wirkung für den Verkehr auf den Wasserstraßen.

Der Große Buddha von Leshan, dessen Blick sich in die Richtung des heiligen Berges Emei (峨眉山) richtet, ist nicht nur wegen seiner Ausdehnung imposant. Er besitzt auch ein bis heute intaktes Innenleben aus Adern, die ein planvolles und effektives System der Entwässerung bilden. Rohre leiten das Regenwasser ab, was die Gefahr einer Verwitterung des anfälligen Sandsteins erheblich mindert.

Trotz dieser umsichtigen Konstruktionsweise gab es im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Beschädigungen durch die Witterung, menschliche Gewalt oder andere Umstände. Darum waren nach den Berichten alter Chroniken von Zeit zu Zeit mehr oder weniger umfassende Restaurationsarbeiten notwendig. Zum Beispiel wurde unter Renzong, dem von 1022 bis 1063 regierenden Kaiser der Song-Dynastie, die Statue von Moosen befreit und der bereits sehr desolate schützende Überbau aus Holz erneuert, der heute gänzlich verschwunden ist. In jüngerer Zeit erreichte im August 2020 ein Hochwasser die sonst auf einem Sockel über dem Wasserspiegel stehenden Füße des Maitreya. Doch seit mehr als 1200 Jahren trotzt die monumentale Skulptur den Herausforderungen der Welt.

Heute ist die von der UNESCO zum Weltkulturerbe gezählte Statue auch zur Touristenattraktion geworden. Doch kommen nach wie vor Pilger, um den Buddha der Zukunft zu verehren. Besonders zum chinesischen Neujahrsfest strömen tausende Buddhisten nach hier. Maitreya, der Kommende, ist in vielen buddhistischen Kulturen, etwa auch in Vietnam und Tibet, mit Feiern zu Neujahr verbunden. Schließlich arbeitet sich die Menschheit mit jedem weiteren Jahr ein Stück mehr in die Zukunft, die also solche dennoch ewig unerreichbar bleibt.