Benedikt Maria Trappen
Konrad Lindner, promovierter und habilitierter Philosoph aus Leipzig, der auf Grund seiner damaligen überzeugten ideologischen Verwurzelung im Marxismus-Leninismus, aber auch – und damit unmittelbar zusammenhängend – aus psychischen Gründen nach der Wende für die akademische Forschung und Lehre nicht mehr in Frage kam und 1992 in den Beruf des (Wissenschafts-) Journalisten wechselte, hat zum anstehenden 250. Geburtstag des Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling im Januar 2025 ein umfangreiches Buch vorgelegt, in dem er die Leipziger Jahre des Tübinger Studienfreundes von Hegel und Hölderlin aus Schriften, Briefen und weiteren Zeitdokumenten lebendig werden lässt.
Die Bürger- und Universitätsstadt Leipzig wird dabei bis in die Gegenwart als Hort der Freiheit und der Forschung sichtbar und gefeiert. Das Buch zeichnet sich durch umfangreiche und gründliche Kenntnisse, eine Vielfalt an Perspektiven, akribische Recherchen und zielführende Imagination aus, wobei das frühe Interesse an der Natur- und Freiheitsphilosophie Schellings auf anregende und unterhaltsame Weise mit späteren Interviews des Wissenschaftsjournalisten – u.a. mit dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizäcker – und lebensgeschichtlichen Ereignissen verknüpft wird.
Aktuellen Anregungen folgend hat Lindner sich dabei auch auf das Werk des Lyrikers Reiner Kunze bezogen, der sich als junger Assistent im „Roten Kloster“, der Kaderschmiede der SED, aus eigener Kraft aus ideologischer Verblendung und Parteihörigkeit befreit hat. Eine späte Entdeckung, deren Kraft und Frische das Buch inhaltlich dennoch bereichert. Sehnsucht als Urgrund der Freiheit, Philosophie und Dichtung wird dabei als urromantisches Motiv ebenso sichtbar wie der Fluss als zentrale Metapher für Leben und Denken.
Alles fließt, ist in ständiger Bewegung, Veränderung. Gegensätze gehen wechselseitig auseinander hervor, bedingen Werden und ermöglichen Ganzheit. Denken ist Überschreiten, wie Lindner anknüpfend an Ernst Bloch resümiert. Und Gott, der Geist ist, kein abstraktes (über-) personales Wesen, das jenseits der Welt als wunscherfüllende, lenkende und bestrafende Instanz angesiedelt ist, sondern die Gesamtheit der personalen Vollzüge real existierender, sich nach Liebe, Verständnis, Freiheit und Frieden sehnender Menschenwesen.
Lindners Buch bringt damit wesentliche Aspekte der Aufklärung erhellend zur Sprache, die auch das 21. Jahrhundert immer noch dringend gebrauchen kann. Seiner Offenheit und Aufrichtigkeit in biografischen Angelegenheiten entspricht seine Gründlichkeit und Ausgewogenheit des Urteils in geschichtlicher Hinsicht, wobei ein Anliegen damals wie heute besonders deutlich wird: Im dialogischen Bemühen um Wahrheit, einander mit Respekt und Würde zu begegnen und nicht zu vergessen, dass Wissenschaft von Menschen für Menschen gemacht wird. Lindner ist es mit diesem Buch eindrucksvoll gelungen, wertvolle Gedanken- und Erlebnis-Fäden zu bündeln und zu einem lebendigen Gewebe zu verdichten. Beigefügt sind dem Buch 19 Aquarelle des Autors aus dem Jahr 2023, die auf ansprechende Weise das ergänzen, was in dem Geschriebenen ungesagt bleiben muss.
Konrad Lindner: Einmal freiere Lüfte atmen. Schellings Idee der Freiheit. Zum Geist der Bürgerstadt Leipzig (1796 – 1822). Neu-Isenburg 2024, 535 S. ISBN 978-3-943624-88-5, 39,80 €