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Free solo. 60 Jahre Leben

Benedikt Maria Trappen

Was am Tag meiner Geburt wirklich geschah, bleibt ungewiss. Die früheste Erinnerung stammt aus dem Mutterleib, den ich mir mit einem Zwilling teilen musste. Er war größer, kräftiger, nahm selbstverständlich seinen Platz ein. Ich musste mich mit dem verbleibenden Raum begnügen, wusste und fühlte aber auch, dass ich irgendwo hingeraten war, wo ich nicht hingewollt hatte und auch nicht bleiben wollte. Dass ich bei meiner Geburt nicht atmete, weiß ich nur aus Erzählungen meiner Mutter. Die Ärzte hatten den nur 1800 Gramm schweren und 48 Zentimeter großen Zweitgeborenen, umgehend Notgetauften bereits aufgegeben. „Es war doch ein sehr kleines und schwaches Kind.“ Meine tief religiöse Mutter, die selbst Hebamme war, flehte den Arzt inständig an, einen letzten Versuch zu wagen. Eine Spritze Adrenalin direkt ins Herz setzte die Atmung in Gang und katapultierte mich ins Leben.

Ob ich damals schon, wie 22 Jahre später, eine ekstatische Lichterfahrung hatte und die Wahl, in die absolute Glückseligkeit einzugehen oder ins Leben zurückzukehren, weiß ich nicht. Die nächsten Wochen verbrachte ich im Brutkasten, und unter der geduldigen und liebevollen Fürsorge meiner Mutter, die mich mit der Pipette ernährte, fand ich den Weg ins Leben. Über meine gesundheitliche Entwicklung findet sich in dem Fotoalbum, das mein Vater mit handschriftlichen Einträgen bis ins Jahr 1976 führte, einzig der Eintrag: „Lobe den Herrn, der künstlich und fein dich bereitet. Der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet. In wieviel Not hat nicht der gütige Gott über dir Flügel gebreitet. Lobe den Herrn und seinen hochheiligen Namen. Lob Ihn mit allen, die von Ihm den Odem bekamen. Er ist dein Licht. Seele vergiß das ja nicht. Lob Ihn in Ewigkeit. Amen!“

Und als ob das „medizinische Wunder“ einer zusätzlichen metaphysischen Erklärung bedürfe, folgt dem Bild des Heiligen Benedikt von Nursia samt Biografie der Eintrag: „Bevor die Erde ward und das Meer und die Sterne am Himmel, vor Anbeginn der Schöpfung, da schon war dein Name bei Gott. In seine Hände schrieb er diesen Namen, daß immer deiner er gedenke. Und da er wollte, daß du seiest, rief seine Stimme voll der Allmacht deinen Namen in das Nichts. Und siehe: Du wardst. Gott aber sprach – und seine Stimme war die Stimme der Liebe -: „Ich habe dich mit Namen gerufen: Mein bist du.“ Und siehe: Es sprangen die Tore des Himmels auf, und einer der Getreuen Gottes, der deines Namens war, trat groß und schimmernd auf die Wege deines Lebens.“

Die ersten Erinnerungen nach der Geburt sind die eines gelassenen Daseins und Gewahrseins, eines reinen Selbstbewusstseins, leer und licht – Ich ohne mich, niemand. Und dieses reine Selbstbewusstsein, reine Gewahrsein im Grunde ist, von den vielfältigen Ereignissen der folgenden sechs Jahrzehnte unberührt, auch heute noch dasselbe wie damals.

Der handschriftliche Eintrag beinhaltet auch – aus der vorweggenommenen Perspektive des Rückblicks auf das Ganze des gelebten Lebens – die Verheißung der Liebe von Menschen und die sich mit dem Tod vollziehende Bilanz des Lebens, das „Gericht vor den Toren der Ewigkeit“.

Buddhisten könnten sagen, dass hier eine Seele, die nach unzähligen Leben nahe der Befreiung ist, noch einmal ihrem Karma gemäß in einen Schoß eingehen und in dieses Leben geboren werden musste, um die endgültige Befreiung, den Eingang ins Nirvana zu erreichen, weshalb es nicht weiter verwunderlich sei, dass sie in eine tief religiöse Familie geboren wurde. Die Faszination und Vertrautheit, die Bilder und Texte aus Indien und Tibet, China und Japan auf mich ausüben, könnten vermuten lassen, dass diese Seele in diesen Kulturen schon oft und lange unterwegs war. Unserer Biologielehrerin stellte ich meinen Bruder und mich in der ersten gymnasialen Unterrichtsstunde vor 50 Jahren mit asiatisch klingenden Namen aus China und Japan kommend vor. Dass ich in meinem Leben, Denken und Schreiben die abendländische Philosophie und Religion zunehmend von dort her ursprünglich begriffen und erfahren habe, könnte die Wahl des Schoßes, meiner Eltern, meiner Familie durchaus erklären.

Auch die Geschichte von Jona und dem Wal könnte ich noch einmal anders erzählen.

Menschen, die sechzig Jahre alt werden, waren für das Kind unvorstellbar alt. Zum sechzigsten Geburtstag meines Vaters schrieb ich auf die Geburtstagskarte eine Inschrift auf einem japanischen Gong: „Geburt und Tod – ein ernstes Geschehen. Nehmt jeden Augenblick in Acht. Zeit steht für niemanden still.“  Zu den Geschenken, die an die große Aufgabe des Lebens erinnern sollten, gehörte neben Mozarts „Zauberflöte“ auch die berühmte Gründgens-Inszenierung von Goethes „Faust“.

Mein Vater ist 2010 mit 83 Jahren gestorben. Ich habe die „große Aufgabe“ auch nach 60 Jahren noch immer nicht gelöst, wenn auch die „große Lösung“ immer wieder aufleuchtet und in die Nähe kommt. Das Leben – Geburt, Kindheit, Reife, Alter und Tod – so viel ist gewiss, wird immer wiederkehren, solange die „große Befreiung“ nicht erreicht ist. Die aber, heißt es, ist nicht nur als endgültige Befreiung vom Leben, sondern als Befreiung im Leben möglich. Bodhisattvas sind Menschen, die die Schwelle zur großen Befreiung erreicht haben, auf das endgültige Eingehen ins Nirvāṇa, ins Ungeschaffene, Absolute aber verzichten, um anderen weiter helfen zu können. Maitreya, der große Liebende und kommende Buddha, ist sicher der bekannteste. Der Alltag ist der Ort der Erleuchtung und Bewährung.

Sechzig Jahre voller Sehnsucht, Hoffnung, Schönheit, Wunder, Dankbarkeit, Kreativität und Liebe, der unermüdlichen Suche, Zweifel, Verletzungen, der Schmerzen und Enttäuschungen, des Scheiterns und der Neuanfänge – ein Alter, das Blaise Pascale, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche nicht erreicht haben – erlauben kein Innehalten, kein Nachlassen, kein Zögern, keine Resignation. Die Schwierigkeit von Kletterrouten wird nach dem höchsten Schwierigkeitsgrad, der Schlüsselstelle, angegeben, auch wenn weite Strecken in einfacherem Gelände verlaufen können.

Im wirklichen Leben wissen wir nie, ob wir die Schlüsselstelle bereits passiert haben oder ob sie, vielleicht unüberwindbar, noch auf uns zukommt. Wir sind unterwegs in vielfältigen Verkleidungen, Rollen, Inszenierungen, allein und ohne Sicherung, free solo. Und wir wissen, dass dieses Abenteuer tödlich enden wird.

[Foto von Hille Trappen: Unser Autor 2018 auf dem Lembert Dome, Yosemite, Kalifornien]