Thomas Wolter
Xuedou, der buddhistische Tempel auf dem gleichnamigen Berg, liegt acht Kilometer nordwestlich der Stadt Xikou. Nach der der Legende steht der Berg in Verbindung mit Budai (布袋), jenem dickbäuchigen Mönch, der als eine Erscheinung des Bodhisattva Maitreya gilt. Er soll im 10. Jahrhundert auf diesem Berg meditiert haben. Budai wird der Ausspruch zugeschrieben, den Lama Anagarika Govinda in seinem Buch Der Weg der weißen Wolken zitiert und der namensgebend für das Buch wurde: „Allein wandere ich tausend Meilen … und erfrage meinen Weg von den Weißen Wolken.“ Alte Prophezeiungen sagen, dass am Berg Xuedou der Bodhisattva Maitreya in Zukunft zum Buddha erwachen soll.
Wer diesen Ort in den letzten Jahrzehnten im Abstand einiger Jahre besuchte, sieht beeindruckt, wie hier zunehmend Gewaltiges geleistet wird. Neben dem Kloster entstand eine eindrucksvolle Hochschule zur akademischen Ausbildung buddhistischer Priester. Auf einem massiven bronzenen Lotuspodium sitzt eine 33 Meter hohe Statue des Budai. Viele neue Kloster- und Tempelgebäude entstanden. Sie zeugen wie ähnliche Aktivitäten an vielen anderen Orten Chinas vom gewaltigen Wachstum, das der Buddhismus in der Volksrepublik derzeit erfährt. Die neueren Baumaßnahmen am Xuedou-Tempel, die bereits 1985 unter dem Abt Guangde begannen, kamen seither durch Spenden einheimischer Buddhisten und die Unterstützung der chinesischen Regierung weit voran.
Der Tempel auf dem Berg Xuedou gehört zu den wichtigsten Orten der Chan-Tradition. Mit Putuo, Wutai, Emei und Jiuhua ist Xuedou zudem einer der fünf heiligen Berge des chinesischen Buddhismus und darum ein bevorzugtes Ziel für das Pilgerwesen. Wer heute, auch als ausländischer Reisender, auf den Berg kommt und mindestens sechs Tage Zeit zur stillen Meditation mitbringt, wird mit ein wenig chinesischen Sprachkenntnissen unschwer Anschluss an Mönche finden und ihren Tagesablauf begleiten dürfen. Wer weniger Zeit hat, sollte sich zumindest die schlichte und dennoch äußerst köstliche vegetarische Küche im Kloster nicht entgehen lassen.
Der heutige Tempel entwickelte sich aus einem Nonnenkloster der Jin-Dynastie, das in der Tang-Zeit 841 an den heutigen Ort verlegt und fünfzig Jahre später massiv erweitert wurde. Schon im 9. Jahrhundert waren 6000 Quadratmeter bebaut und der Tempel besaß zu seinem Unterhalt gespendete Gründe im Ausmaß von 90 Hektar. Im Jahr 999 sprach der Kaiser Zhao Heng der Nördlichen Song-Dynastie ehrfurchtsvoll von dem „heiligen Tempel von Xuedou.“ Während der Song-Dynastie erfuhr die Stätte starke kaiserliche Förderung. Nach der Legende besuchte der Song-Kaiser Renzong 1037 im Traum den Tempel auf dem Berg Xuedou, den man seither auch „Traum-Tempel“ nannte.
In seiner Geschichte sah der Ort das Wirken vieler großer Meister unterschiedlicher Traditionen des Buddhismus. Yongming Yanshou (永明延壽, 904–975) lehrte zeitweilig hier, der der eine Synthese scheinbar widersprüchlicher Lehren der Schulrichtungen schuf. Yongming Yanshou zeigte den inneren Zusammenhang dessen, was nach außen als Gegensatz auftritt, indem er Ideen des Zen, der Schule des Reinen Landes und des Huayan verband. Im 12. Jahrhundert wirkte hier der bekannte Chan-Lehrer Xuedou Zhijian (雪竇智鑑), der den Namen des heiligen Bergs in seinem eigenen führt. Er schrieb einst das Gedicht:
„Durch ein Wort oder sieben Wörter oder dreimal fünf,
sogar wenn Du unzählige Gestalten gründlich untersuchst,
auf nichts kann man sich verlassen.
Die Nacht schreitet voran, der Mond erglüht und fällt ins Meer.
Das schwarze Drachenjuwel, nachdem du suchtest, ist überall.“
Unter den Meistern der jüngeren Geschichte, die hier tätig waren, ist Taixu (太虛, 1890-1947) zu nennen, eine der großen Gestalten des modernen chinesischen Buddhismus, der diesen mit der westlichen Kultur und den Erkenntnissen der Naturwissenschaften konfrontierte. Taixu ist zudem als einer der Lehrer von Lama Anagarika Govinda von internationaler Bedeutung. Die beiden trafen einander, als Taixu mit chinesischen Schülern von 1939 bis 1940 in Britisch Indien unterwegs war. Govinda und Taixu verband das Interesse an meditativen Fragen, die zentrale Stellung, die Maitreya für beide einnahm, und das Anliegen, buddhistische Inhalte für die moderne Welt zu aktualisieren. Nachdem Taixu in Shanghai verstorben war, wurde seine Asche zum Berg Xuedou überführt.
Ein Name der im Zusammenhang mit diesem Tempel erwähnt werden sollte, ist jener der bedeutenden chinesischen Schriftstellerin Dai Houying (戴厚英 1938-1996). Die in jungen Jahren überzeugte Rotgardistin mit religionskritischer Einstellung konvertierte in ihrer späten Zeit zum Buddhismus, nachdem sie sich sieben Tage zur Meditation in den Xuedou-Tempel zurückgezogen hatte. Von ihren inneren Erfahrungen zeugt eine Schrift, deren Titel man mit Karma im Xuedou-Tempel (结缘雪窦寺) wiedergeben kann.
Wer sich für den Maitreya-Mythos und die Geschichte des Buddhismus in China interessiert, wird am Berg Xuedou neben der reichen religiösen Kultur mit wunderbaren Gelegenheiten zu Wanderungen durch an Wasserfällen reiche Landschaften belohnt. Liebhaber chinesischer Lyrik kennen vielleicht das Gedicht von Wang Anshi (王安石, 1021-1086), in dem dieser einen langen und geraden Wasserfall am Berg Xuedou bewundert.
Auch wenn der Ort heute besonderes touristisches Interesse genießt und oft von vielen Besuchern frequentiert wird, hier lässt sich, für den, dessen Augen und Ohren offen sind, das Wesentliche entdecken: Schönheit, Stille und beim Untergang des Mondes vielleicht auch das schwarze Drachenjuwel, von dem Xuedou Zhijian sagt, es sei überall…