Thomas Wolter
Wir redeten unterwegs kaum, denn Wei war müde und schlummerte neben mir auf dem Beifahrersitz. Irgendwann auf halber Strecke von der Stadt Huangshan zum Berg Jiuhua murmelte sie: „Ein Sprichwort lautet: Nicht die Höhe, – die Heiligkeit macht den Berg bedeutend.“
„Warum sagst du das?“ wollte ich wissen.
„Weil der Jiuhua 500 Meter niedriger ist als der Huang mit fast 1900 Metern,“ gähnte Wei. Im nächsten Moment schien sie tief zu schlafen. Nach über einer Stunde, kurz bevor wir den Jiuhua erreichten, setzte sie sich unvermittelt hellwach auf. Mit kurzen Anweisungen lotste sie mich zu dem Platz, an dem wir das Auto parkten.
Wir nahmen unser leichtes Gepäck aus dem Kofferraum und gingen los. Wei, die wiederholt hier war, kannte den Weg zur Unterkunft bei einem der vielen Tempel.
Nach ein paar Schritten sagte sie: „Jetzt haben wir beide gute Chancen, 99 Jahre alt zu werden.“
Ich fragte, was sie damit meinte.
„99 ist an diesem Ort die wichtige Zahl. Dieses Gebirge hat 99 Gipfel, es gibt 99 Tempel, und der Bodhisattva, den man hier verehrt, wurde in seiner menschlichen Form 99 Jahre alt. In neuerer Zeit hat man seine Statue errichtet, die 99 Meter hoch ist.“
„Müssen wir dann 99 Tage bleiben?“
Weis Antwort klang euphorisch: „In unserem Fall nicht, denn in drei Tagen kennen wir einander seit 99 Wochen. Weil wir vier Tage hier sind, werden wir das Jubiläum unserer 99. Woche auf dem Berg verbringen. Das sollte wirken.“
Ich staunte: „Du hast die Wochen gezählt, die wir uns kennen?“
„Selbstverständlich, auch die Tage. In drei Tagen sind es 693, seit mein Bruder dich mir vorstellte. Wir sind heute also den 690. Tag zusammen.“
„Ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob ich 99 Jahre alt werden will,“ wandte ich ein.
Wei lachte: „Die 99 müssen keine Jahre im Sinn des Kalenders sein. Es ist ein gutes Leben gemeint, das sich wie 99 freudvolle Jahre anfühlt. Konkrete Zahlen bedeuten nichts.“
„Warum zählst du penibel unsere Tage und Wochen, wenn Zahlen nichts bedeuten?“
Streng antwortete Wei: „Wie so oft, verstehst du wieder einmal nicht, worum es geht. Im Yijing steht: ‚Am Beginn eine Neun, das heißt: Auf dem Weg wiederkehren. Wie könnte das schlecht sein?‘“
Weil mir dazu nichts einfiel, ging ich schweigend neben ihr, bis wir unser Ziel erreichten. Sofort fühlte ich mich wohl in dem einfachen Raum, den wir bezogen. Ich machte es mir in einem Sessel bequem und fragte Wei, die ihre Kleidung in den Schrank legte:
„Bringst du alle Männer in der 99. Woche nach hier?“
„Nur solche, die ich länger als 693 Tage ertragen will.“
„Sitzt dann jeder von ihnen in diesem Sessel und stellt dieselben Fragen?“
„Die wenigsten haben ausreichend Fantasie, um zu ahnen, dass eine Frau vor ihnen schon andere Männer ernst genug nahm, um sie nach hier mitzunehmen,“ gab Wei zurück. Bevor ich dazu kam, mich über das Kompliment zu freuen, fügte sie hinzu: „Komm jetzt, wir gehen etwas essen und dann früh ins Bett. Im Tempel nebenan, beginnt die Andacht drei Stunden nach Mitternacht. Das dürfen wir nicht versäumen.“
Wie recht Wei hatte. Tatsächlich wollte ich nach dem ersten Mal nicht mehr fehlen, wenn die Mönche zur frühen Stunde bei Trommelschlag und Glockenklang rezitierten. Ich habe das oft und an vielen Orten erlebt, doch hier nahm ich jedes Mal ein unbeschreibliches Gefühl der Kraft mit in den anbrechenden Morgen.
Bei über neunzig Tempeln und Schreinen waren die vier Tage mehr als ausgefüllt. Alten Chroniken zufolge gab es schon zu Anfang des 5. Jahrhundert buddhistische Aktivitäten am Berg. Aber ein großer Aufschwung kam im frühen 8. Jahrhundert mit dem Prinzen Kim Gyo-gak aus dem Königreich Silla im heutigen Korea, der sich als Einsiedler auf dem Jiuhua niederließ. Er studierte buddhistische Texte und widmete sich der Meditation, nachdem er als Dizang oder Jijang zum Mönch ordiniert wurde, die chinesische oder koreanische Form des Namens des Bodhisattva Kṣitigarbha. Irgendwann wurden Menschen auf den zurückgezogenen Jijang aufmerksam, worauf sich aus der kleinen Einsiedelei ein Zentrum der Gelehrsamkeit und Meditation mit vielen Tempeln entwickelte.
Wie es dazu gekommen sein soll, erzählte mir Wei, während wir am ersten Morgen über einen der vielen Treppenwege nach oben schritten:
„Besucher waren von Jijang beeindruckt und wollten ihm einen Tempel schenken. Sie fragten ihn, wie viel Land er dafür wünsche. Sie wollten dem reichen Mann, dem der Berg gehörte, das entsprechende Stück abkaufen. Der Einsiedler antwortete, er brauche nur so viel Grund, wie sein Mönchsgewand bedecken kann. Die willigen Spender meinten, das Stück Stoff reiche nicht, um den Platz für einen Tempel zu markieren. Sie forderten ihn auf, nicht zu bescheiden zu sein. Aber Jijang bestand darauf, nicht mehr zu erhalten, als sein Gewand abdeckte. Dann schleuderte er die Robe in die Luft, und im selben Moment erfasste sie der Wind, der sie weit nach oben trieb. Bald war sie ein flatternder Punkt fern am Himmel. Als das Gewand langsam zur Erde zurück glitt, vergrößerte es sich im Flug, bis es wieder am Boden war und den Berg vollständig einhüllte. Die Zeugen waren fassungslos, und der reiche Eigentümer überließ Jijang freudig den ganzen Berg.“
„Nicht schlecht, eine Mönchsrobe von mehreren Quadratkilometern; kein Pilgerort ohne Märchen.“ Die mir herausgerutschte Bemerkung bereute ich schon während sie fiel. Ich wollte Wei nicht kränken. Außerdem liebe ich selbst Wundergeschichten, obwohl ich mir schwerer als Wei tue, darin Tatsachen zu sehen. Andererseits schien mir, dass niemand auf dieser Erde die selbstbewusste Wei kränken kann.
Tatsächlich lachte sie herzlich: „Wer nicht glauben will, muss sehen.“
Sie öffnete ihre kleine Handtasche, nahm ein blaues Tüchlein heraus und hielt es mit ausgetrecktem Arm nach oben. Mancher Leser wird mir nicht abnehmen, was nun geschah. Aber genauso war es: Sofort als Weis Finger das Tuch freigaben, trieb ein unvorhersehbarer Windstoß es ein bis zwei Meter über unseren Köpfen in die Höhe. Ich sah nach oben, und schon landete das Tuch auf meinem Gesicht. Es war etwa viermal größer, als Wei es aus der Tasche gezogen hatte. Sie legte eine Hand darauf und sagte: „Alles unter diesem Stoff gehört jetzt mir. So ist es hier am Berg seit über tausend Jahren der Brauch.“
Dann rollte sie mit raschen Bewegungen das Tuch auf meiner Stirn zu einer Kordel, mit der sie anschließend ihre Haare am Hinterkopf zusammenband.
Ich stand sprachlos auf der Treppe und starrte Wei an. Für die Vergrößerung des Tuchs mochte es eine natürliche Erklärung geben: Sie trug es zusammengefaltet in der Tasche. Aber der Windstoß aus dem Nichts, nachdem man zuvor und danach keinen Hauch spürte, war ein Mysterium.
Nachdem das Tuch um ihr Haar befestigt war, meinte Wei: „Du siehst, die Geschichte mit dem Gewand stimmt. Jetzt gewöhne dich noch an die 99 Jahre. Natürlich willst du so alt werden. Jeder will das. Jijang hatte dieses Alter bei seinem Tod im Jahr 794 erreicht. Als man drei Jahre später seinen Körper aus dem Grab nahm, wirkte er noch lebendig. Die Haut war weich und hatte eine natürliche Farbe. Irgendwie lebte er noch, und so baute man für seinen Körper eine Pagode und um diese dann einen Tempel. Wir erweisen heute dem Körper Jijangs unsere Verehrung und bitten um eine lange erfüllte Zeit für dich, für mich und für uns.“
Schweigend ging ich neben meiner Begleiterin, blickte um mich und genoss, was an Natur und Architektur zu sehen war. Zwar gab es viele, vielleicht zu viele Menschen am Berg, der mehr Touristenattraktion als Pilgerort zu sein schien. Aber ich spürte durch Wei, dass an diesem Ort Besonderes vorging oder zumindest vorgegangen war und fortwirkte. Als die Mönche den Leichnam des Jiang unversehrt fanden, glaubten sie, dass ihr Bruder nicht nur Kṣitigarbhas Namen trug, sondern wahrhaft eine Verkörperung dieses Bodhisattva war. Daraus schloss man, der Bodhisattva habe den Berg Jiuhua als Bodhimaṇḍa erwählt, als heiligen Bereich seines Wirkens auf der Erde.
Der Sanskrit-Name Kṣitigarbha bedeutet Schatzkammer der Erde, Erdenmatrix oder Schoß der Erde, was an uralte chthonische Kulte erinnert, die der Buddhismus aufnahm. In Ostasien wird dieser Bodhisattva hoch verehrt. Seine volle chinesische Namensform lautet „Bodhisattva Kṣitigarbha des Großen Gelübdes“. Dies bezieht sich auf ein Versprechen, das er dem Kṣitigarbha Bodhisattva Pūrvapraṇidhāna Sūtra zufolge gab: In der Zeit zwischen dem Tod des Buddha Gautama und dem Erscheinen des nächsten Buddha Maitreya will er sich um die Befreiung der Wesen kümmern. Besonders die niederen Sphären der Existenz sind ihm ein Anliegen, denn in einem früheren Leben war Kṣitigarbha ein indisches Mädchen, dem es durch Anleitung eines Buddha gelang, seine Mutter aus der Unterwelt zu retten. Nachdem das Mädchen die dort Leidenden gesehen hatte, genügte ihm die Befreiung der eigenen Mutter nicht. Es gelobte, allen zu helfen, die im elenden Dasein gefangen sind. Im Lauf eines langen Reifens durch viele Leben wurde aus diesem Mädchen der Bodhisattva Kṣitigarbha.
Mit Wei opferte ich Weihrauch und bat Kṣitigarbhas Verkörperung Jijang um ein langes erfülltes Leben für sie, für mich und für uns beide. Er war nicht der einzige leiblich anwesende Heilige, an den wir uns auf dem Berg wandten. Am nächsten Tag besuchten wir den Mönch Haiyu, der unter dem Namen Wuxia bekannt wurde. Er starb im 17. Jahrhundert nach mindestens 110 Lebensjahren, in denen er viel Wunderbares vollbrachte. Hier auf dem Berg schrieb er mit seinem eigenen Blut als Tinte buddhistische Texte ab.
„Wuxia blieb nach seinem Tod bis heute aktiv,“ sagte Wei. „Im 19. Jahrhundert haben Menschen gesehen, wie er den Arm hob, um einem Feuer, das ausbrach, Einhalt zu gebieten.“
Am Abend im bequemen Sessel unseres Zimmers blätterte ich in Der Weg der weißen Wolken von Lama Anagarika Govinda, einem Reisebuch, das mich unterwegs oft begleitet. Ich lese seit Jahren darin und finde jedes Mal Passagen, die mich fesseln und mir neue Einsichten schenken.
Auf der zufällig aufgeschlagenen Seite stieß ich auf eine Stelle, die mir zu den Erlebnissen dieser Tage zu passen schien. Deshalb übersetzte ich sie für Wei:
„Wenn ein Mensch einen hohen Grad an Verwirklichung – oder wie wir zu sagen pflegen, Heiligkeit – erreicht hat, so nimmt man an, dass auch die materiellen Bestandteile des Körpers bis zu einem gewissen Grad transformiert sind. Sie sind sozusagen gesättigt von psychischen Kräften, die auch weiterhin ihre Umgebung beeinflussen, ganz besonders die Menschen, die sich auf Grund ihrer religiösen Einstellung in aufrichtigem Glauben solchen Einflüssen öffnen. Die gleichen Kräfte sollen auch den natürlichen Zerfall des Körpers verzögern, was bei Heiligen anderer Religionen ebenfalls beobachtet worden ist – und dies selbst unter den denkbar ungünstigsten Umständen eines tropischen Klimas (wie z.B. im Fall des Heiligen Franz Xaver von Goa).“ Darauf basiert nach Govinda der in der ganzen Welt verbreiteten Glauben an Reliquien.
Wei meinte: „Wenn man es einem Menschen so erklären muss, versteht er es mit dem Kopf. Aber ich glaube nicht, dass er dann im Herzen fühlt, wie ein Heiliger wirkt. Diese Körper sind keine Reliquien von Toten. Das sind Anwesende. Wer weiß, ob ein Heiliger den Körper transformiert oder ob er erkannte, dass der Körper eine Täuschung ist, weil es vielleicht keine Materie gibt, sondern Formen, die der Geist annimmt? Ich weiß es nicht. Aber immer, wenn ich hier bin, spüre ich, dass die alten Heiligen auch noch da sind.“
Wir besuchten in den beiden folgenden Tagen sechs weitere Heilige am Jiuhua, deren Leiber nach dem Tod nicht verwesten oder zerfielen: Duduo, aus dem 17. Jahrhundert, Longshan, der im 19. Jahrhundert starb, sowie Chang’en, Falong, Dinghui und Huade, die im 20. Jahrhundert hier wohnten.
Als wir den Berg verließen, war ich um wertvolle Erkenntnisse reicher, die ich allerdings nicht in Worte fassen kann. Darum sage ich wohl besser, es waren wertvolle Gefühle. Dass ich mich nach allem entschloss, doch 99 Jahre alt zu werden, deutet nur einen winzigen Aspekt an. Auch damit, dass ich seither jeden Tag mindestens ein Wunder erlebe, ist noch zu wenig gesagt. Schon unser Aufbruch war ein Wunder:
Beim Auto kündigte Wei bestimmt an: „Ich fahre zurück.“ Am Steuer sitzend schloss sie die Augen. Einige Minuten vergingen, während sie offenbar nachdachte. Dann sagte sie: „Unser großer Dichter Li Bai war im 8. Jahrhundert hier und schrieb: ‚Vom azurblauen Himmel strömt ein Jadefluss nieder. Neun betörende Lotusblumen steigen aus Hügeln auf.‘ Oder so ähnlich. Vielleicht schrieb er auch: ‚Einst auf dem Jiujiang segelnd, sah ich die fernen Gipfel des Jiuhua als Himmelsfluss in der Höhe, grünes Wasser mit Mandeleibisch geschmückt.‘ Ich weiß nicht mehr, was genau er schrieb. Aber es war auf jeden Fall unglaublich schön.“ Dann startete sie den Motor.