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Hisao Inagaki 1929 – 2021

Toshikazu Satō

Ein weltweit beachteter buddhistischer Gelehrter, der ebenfalls ein Meister auf dem Weg des Buddha war, ist 2021 mit Hisao Inagaki aus dieser Welt geschieden. Menschen, die mit viel Gewinn seine akademischen Werke konsultierten, die seine Vorträge zum praktizierten Buddhismus hörten oder denen das Privileg zukam, ihn zum Weggefährten zu haben, können ermessen, wie dieser Wissenschaftler und Weise über Japan hinaus vermisst werden wird.

Zuiken Saizō Inagaki

Hisao Inagaki wurde im November 1929 in Kobe geboren, wo sein Vater Saizō Inagaki (1885‑1981) als Englischlehrer tätig war und später Rektor der Seitoku Gakuen, der heutigen Ryūkoku Junior High School und Ryūkoku High School wurde. Diese Bildungseinrichtung ist mit dem Nishi Honganji verbunden, einem großen buddhistischen Tempel in Kyōto, dessen Lehren die Familie Inagaki folgte. Saizō, dessen Ordinationsname Zuiken war, wurde als Nachfolger seines Lehrers Riken Katsura (1872‑1944) zum vierten Oberhaupt einer Hōrai, das heißt Dharma Donner,  genannten buddhistischen Überlieferungslinie innerhalb der Honganji-Tradition. In dieser Stellung wurde er für viele Männern und Frauen in der Region Kansai zu einem maßgebenden Lehrer.

Shinran Shōnin

Der Sohn Hisao war von dem Vorbild seines außergewöhnlichen Vaters beeinflusst. Fest im buddhistischen Erbe Japans verwurzelt, hatte Zuiken Englisch studiert und ein ausgeprägtes Interesse an der Literatur in englischer Sprache. Er war überzeugt davon, dass in seiner Epoche die Begegnung und gegenseitige Befruchtung der Kulturen des Ostens und des Westens ein dringendes Gebot waren. Auch Hisao war seit seiner Kindheit wie seine ganze Familie dem von Shinran Shōnin (1173-1263) gegründeten buddhistischen Weg Jōdo Shinshū hingegeben, öffnete sich aber nach dem Vorbild seines Vaters auch der Bildung des Westens.

An der Kobe City University of Foreign Languages absolvierte Hisao Inagaki einen Bachelor-Studiengang, der ihn mit den Sprachen Europas vertraut machte. Es folgte ein Master-Studium an der Ryūkoku Universität in Kyōto. Dann ging er nach London, um an der renommierten School of Oriental and African Studies der University of London 1968 das Doktorat zu erwerben. Eine erweiterte Fassung der Dissertationsschrift The Anantamukhanirhāra-dhāranīsūtra and Jñānagarbha’s Commentary: A Study and the Tibetan Text erschien 1987 in Kyōto.

Nach Abschluss des Doktorats war Hisao Inagaki an der Londoner Universität als Lehrbeauftragter für Buddhismus tätig. In dieser Zeit arbeitete er eng mit dem britischen Tibetologen David Llewellyn Snellgrove (1920-2016) zusammen. Ab 1969 war Hiaso Inagaki Professor an der Ryūkoku Daigaku, einer im 17. Jahrhundert gegründeten buddhistischen Universität in Kyōto.

Neben seiner akademischen Lehrtätigkeit erwies er sich wie zuvor sein Vater Zuiken als ein außerordentlich fruchtbarer Schriftsteller. Zuiken hatte mehr als 70 Arbeiten verfasst, wovon als das Hauptwerk ein 1963 erschienener siebenbändiger Kommentar zu Shinran Shōnins Buch Kyōgyōshinshō gilt. Dieses Buch Shinrans war nicht nur im Japan der Kamakura-Zeit wirkmächtig, sondern ist bis heute im religiösen Leben des Landes folgenreich.

Werke Hisao Inagakis liegen in vielen Sprachen vor, auch in Italienisch: La Via della Fede nel Nembutsu (2017)

Hisao Inagakis Schaffen als Autor zeichnet sich durch eine große Vielfältigkeit aus. Es umfasst bedeutende Nachschlagewerke für Menschen, die den Buddhismus studieren, wie A Dictionary of Japanese Buddhist Terms (1984), A tri-lingual Glossary of the Sukhāvatīvyūha Sūtras (1984) und A Glossary of Zen Terms (1991). Dazu kommen Übersetzungen ins Englische aus dem Tibetischen, Chinesischen und Japanischen wie The Three Pure Land Sutras: A study and translation (1994), T’an-luan’s Commentary on Vasubandhu’s Discourse on the Pure Land: A Study and Translation (1998) und Nāgārjuna Discourse on the Ten Stages: Translation and Study of the Verses and the Chapter on the Easy Practice (1998).

Viele weitere Veröffentlichungen ließen sich nennen. Erwähnt davon sei an dieser Stelle noch das Buch The Amida Sutra Mandala: An Iconography with the Text of the Amida Sutra (1996), das sich mit der Ikonografie der buddhistischen Schule des Reinen Landes beschäftigt.

Immer wieder führten Kongresse, Forschungsprojekte und Gastprofessuren den unermüdlich arbeitenden Gelehrten ins Ausland. Zum Beispiel nahm er Gastprofessuren an der University of California in Berkeley (1985), an der University of Hawaii in Manoa (1989) und der Universität Leiden in den Niederlanden (1992) wahr. Seit 1993 war er der Präsident der International Association of Shin Buddhist Studies, die ihn 2005 auf Grund seiner Verdienste zu ihrem Ehrenpräsidenten ernannte.

Hisao Inagakis internationale Aufgaben, Auslandsaufenthalte und sein starkes Interesse an einem Dialog der Kulturen erlaubten ihm, dass er Freundschaften zu Männern und Frauen auf allen Kontinenten pflegte. Zu den Menschen, denen er verbunden war, zählten die in Hawaii lebende Schriftstellerin Ruth Tabrah (1921-2004) und der amerikanische Religionswissenschaftler Alfred Bloom (1926-2017), der als Professor an den Universitäten von Oregon und Hawaii lehrte. Als drei weitere Persönlichkeiten, mit denen Hisao Inagaki Freundschaften und Austausch pflegte, sollen Harold Stewart, Marco Pallis und Volker Zotz genannt sein.

Harold Stewart

Der australische Dichter Harold Stewart (1916-1995) hatte in seiner Heimat in den vierziger Jahren Berühmtheit erlangt, weil er gemeinsam mit dem Literaten James McAuley (1917-1976) den Dichter Earn Malley erfand. Stewart und McAuley, die beide im traditionellen Stil schrieben, wollten mit den modernistischen Werken, die sie für ihre fiktive Gestalt verfassten, die Wertlosigkeit neuer Strömungen der Dichtung zeigen. Harold Stewart wandte sich in den fünfziger Jahren dem Buddhismus zu und lebte seit den sechziger Jahren ständig in Kyōto, was sein bekanntes Buch By the Old Walls of Kyoto (1981) in Lyrik und Prosa reflektiert. Die sprachliche Meisterschaft der Übersetzungen buddhistischer Schriften, die Hisao Inagaki vorlegte, gründet auf seinen jahrlangen Diskussionen mit Stewart über den Stil und die Wortwahl, die für die Wiedergabe chinesischer und japanischer Texte im Englischen angemessen sind.

Marco Pallis

Mit Marco Pallis (1895-1989) schloss Hisao Inagaki während seiner Zeit an der University of London Freundschaft. Pallis, der an der Royal Academy of Music lehrte, war Komponist, Experte für frühe europäische Musik und die Viola da gamba. In weiten Kreisen bekannt wurde er durch Bücher über seine Erlebnisse im Himalaya-Raum, über Tibet und über den Buddhismus wie Peaks and Lamas (1946) und A Buddhist Spectrum (1980). In der letzten Lebensphase arbeitete Pallis an einer Oper über den tibetischen Dichter Milarepa, die er nicht mehr vollenden konnte. Was Hiaso Inagaki 1989 am Ende seines Nachrufs auf Pallis schrieb, zeigt auch die Weite seiner eigenen Anschauung: „Es ist nicht wichtig, ob er ein tibetischer Buddhist war oder ein Anhänger des Reinen Landes. Auf der Ebene seiner spirituellen Verwirklichung vereinen sich alle verschiedenen Farben zu einer, dem alles umfassenden Unendlichen Licht, Amitābha.“

Zuio Hisao Inagaki mit Volker Zotz (1990)

Mit dem 1956 geborenen österreichischen Philosophen Volker Zotz war Hisao Inagaki seit den achtziger Jahren verbunden. Zotz leistete mit Büchern wie Der Buddha im Reinen Land (1991) und Geschichte der buddhistischen Philosophie (1996) wichtige Beiträge zum Verständnis des Buddhismus. Er lebte von 1989 bis 1999 in Kyōto, wo er in den ersten Jahren an der Ryūkoku Universität mit Hisao Inagaki in Forschungsprojekten arbeitete. Als Volker Zotz mit Kōshō Ōtani 1994 in Österreich das Institut Kōmyōji ins Leben rief, das Kurse zu buddhistischen Themen veranstaltet, gehörte Hisao Inagaki von Anfang an zu den Ratgebern und Förderern des Projekts. Auf seine Anregung übersetzte Volker Zotz die Gedichte seines Vaters Zuiken ins Deutsche, die in den neunziger Jahren in der Zeitschrift Ḍamaru erschienen.

Auf die Frage, wie er sein gewaltiges Arbeitspensum aus Lehre, Forschung, Schreiben und der Erhaltung eines internationalen Netzwerks mit umfangreichen Korrespondenzen bewältige, hörte ich Inagaki-sensei sagen: „Ich überlasse alles dem Pratītyasamutpāda, dem Bedingten Entstehen.“ Damit deutete er im Sinn von Shinran Shōnin an, dass er die Dinge einfach geschehen ließ und nichts mit Zwang verwirklichen wollte. Die Quelle der großen Kraft, die von ihm ausging, sah er nicht in sich, sondern in all dem, was ihn zu dem machte, der er war.

Das Verlassen der Welt, bedeutete für Hisao Inagaki immer die Geburt im Land des Buddha. Nach dort ist er am 6. Juni 2021 zurückgekehrt, und wir erinnern uns an ihn seither unter seinem buddhistischen Namen Zuio. Durch seine Bücher, die Früchte seiner vielfältigen Aktivitäten und die Anstöße, die er vielen seiner Studenten und buddhistischen Weggefährten in aller Welt gab, wird Zuio Inagaki lange fortwirken. Namu Amida Butsu.

[Der Autor dankt Thomas Wolter für die Hilfe bei der deutschen Formulierung dieses Nachrufs]