Jan Kerkmann
Rezension zu Benedikt Maria Trappen: Wahrheit, Ewige Wiederkehr, Wille zur Macht. Grundthemen Nietzsches in der Auslegung von Karl Jaspers. München 2020, 120 Seiten.
Der ausgewiesene Nietzsche-Kenner Benedikt Maria Trappen setzt sich in der vorliegenden Studie mit jenen Kernbegriffen auseinander, die Jaspers‘ bis heute kontrovers diskutiertes Werk Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens (1936) maßgeblich prägen. Trappen wählt dabei ein konstruktives hermeneutisches Verfahren, das die vorgängig-einleitende Zusammenschau kritischer Forschungsansichten zu Jaspers‘ Nietzsche-Rezeption, die übersichtliche Darstellung der Existenzphilosophie Jaspers‘ und eine eigenständige Beurteilung der thematischen Gedanken Nietzsches miteinander verbindet.
Im ersten Kapitel, das den Titel: Grundzüge und Kritik des Werkes von Jaspers (vgl. 13–43) trägt, wird die Existenzphilosophie zunächst als wesentlicher Hintergrund von Jaspers Nietzsche-Deutung aufgerufen. Anschließend artikuliert Trappen gemeinsam mit den prominenten Jaspers-Kritikern Walter Kaufmann und Karl Löwith die grundsätzliche Frage, inwieweit Jaspers seine eigenen Weltauslegungskriterien auf Nietzsches Philosophie projiziere (vgl. 24f.). In der darauf aufbauenden, behutsamen Analyse signalisiert Trappen ein aufrichtiges Verständnis für Jaspers‘ Forderung, wonach Nietzsches Denken nicht auf den dogmatischen Gehalt einer signifikanten Grundlehre verengt werden dürfe. Nietzsche „aus unserer eigenen Substanz“ (17) entgegenkommend, ist es für Jaspers nämlich erst die spezifische Haltung des unablässigen „Sichhervorbringen[s]“ (17), die den jeweiligen Wert und die welterschließende Tragkraft einzelner Philosopheme Nietzsches dokumentiert und bekräftigt.
Obgleich er die aus dieser Maxime entspringende Offenheit der Aneignung Nietzsches honoriert, entfaltet Trappen mehrere Schwierigkeiten des jasperschen Deutungsansatzes. Diese beziehen sich vornehmlich auf Jaspers‘ offenkundig von außen herangeführte Bestimmung, dass Nietzsches Denkenergie jedwede verfestigte Gestalt auflöse und einstweilen gewonnene Lebensanschauungen verflüssige. Jaspers zufolge sucht Nietzsche durch das Negierte hindurch eine universale Bejahung des Daseins hervorscheinen zu lassen, die sich jedoch allein in einem intuitiven Innewerden des Seins konturiere. Hinsichtlich dieses relativistischen Narrativs permanenter Selbstaufhebungen markiert Trappen ein erstes schwerwiegendes Problem, indem er Jaspers’ These erörtert, dass sich zu jeder metaphysischen, ethischen und soziologischen Position Nietzsches ein direkter Widerspruch innerhalb des Werkes auffinden lasse. Auf dieser Basis könne Jaspers in seiner Interpretation der Sein und Werden, Ewigkeit und Zeit, Natur und Mensch vereinigenden ewigen Wiederkehr nicht erfassen, dass Nietzsches Denken von einer nahezu schicksalhaften Aufstiegsdynamik durchdrungen sei. Westliche und östliche Traditionen verbindend, parallelisiert Trappen den dionysischen Erkenntnisweg Nietzsches mit den Selbstwerdungsprozessen in Hegels Phänomenologie des Geistes (vgl. 72–76), im Kundalini-Yoga und in der Psychoanalyse (vgl. 95–98).
Während sich die Bewegung der Transzendenz für Jaspers in einer Einklammerung sämtlicher Wahrheitsansprüche der systematischen Philosophie zugunsten einer existenziell-anthropozentrischen Erhellung erfüllt, votiert Trappen dafür, dass Nietzsche mit der Lehre der ewigen Wiederkehr die Überwindung des selbstbewussten Ich in einer kosmologischen Ausfächerung des wahren Selbst intendiere. Solange das Gegenwärtige als einzige Wirklichkeit wahrgenommen wird, ist der Mensch nach Nietzsche gezwungen, sich angesichts der determinierenden Macht des Gewesenen ohnmächtig gegen die Vergänglichkeit als solche zu wenden und die sinnlich-zeitliche Welt zu fliehen. Erfährt er hingegen die in jedem Augenblick erzielte Vollkommenheit der Welt, kann er sich – wie Trappen mit Nietzsche unterstreicht – affirmativ in den Ring der schöpferischen Natur einlassen. In dieser Sphäre der ungeteilten Immanenz hängt „alles mit allem“ (90) zusammen, zumal das Vergangene als ein zukünftig Wiederkehrendes je schon gerechtfertigt und erlöst ist.
Nicht zuletzt müsse Jaspers in seiner ahistorischen und zwischen den einzelnen Werkphasen nicht differenzierenden Lesart ignorieren, dass Nietzsche immer wieder den biographischen Versuch unternommen habe, seine eigene Entwicklung – durchaus auch teleologisch – zu ordnen. Zudem besaß Nietzsche zeit seines Lebens die Tendenz, in der Philosophiegeschichte nach Autoritäten wie etwa Heraklit und Spinoza Ausschau zu halten, als deren Erbe er sich inszenierte.
Obgleich er Jaspers also eine stupende und selten erreichte, sich bis in die Briefe und entlegene Nachlassstellen verästelnde Gesamterfassung der Philosophie Nietzsches bescheinigen kann, gelingt es Trappen überzeugend, Jaspers‘ ostentative Betonung der Unerschöpflichkeit Nietzsches gerade gegen dessen projektiven Zugriff zu verteidigen. So ist es als ausgesprochen fruchtbringend zu würdigen, dass Trappen sich nicht nur virtuos in der Gedankenwelt Nietzsches zu orientieren weiß, sondern auch die leitenden Grundannahmen der Existenzphilosophie Jaspers‘ luzide und prägnant zu charakterisieren vermag. Diese doppelseitige Kenntnis kommt Trappen insbesondere zugute, wenn er Jaspers‘ Exposition der Wahrheit als einer „unbefangene[n] Synthesis, die den umfaßenden Sinn von Wahrsein ausmachen soll“ sowie als existenzergreifender „Wahrheit im Durchbruch“ (58) von Nietzsches epistemologischen Konzeptionen des perspektivischen Scheins und des lebensnotwendigen Irrtums abgrenzt. Insgesamt sei Trappens akribische, gedankenreiche und stringent argumentierende Studie allen Leserinnen und Lesern ausdrücklich empfohlen, die sich vertiefend mit einer herausragenden Nietzsche-Deutung befassen möchten, welche trotz ihrer leidenschaftlich-existenzphilosophischen Textur nicht auf die großen Fragen und Rätsel der Metaphysik verzichtet.
(Obiges Foto von Karl Jaspers: ETH-Bibliothek, Zürich)