Benedikt Maria Trappen
Vor mehr als vierzig Jahren schenkte mir eine befreundete Philosophie-Studentin Janoschs Kinderbuch O wie schön ist Panama. „Panama“ hatte sie durchgestrichen und „Blieskastel“ darübergeschrieben, unser gemeinsamer Wohnort. Von Hand hinzugefügt hatte sie den Satz: „Lieber eine Kerze anzünden, als über die Dunkelheit klagen.“ (Konfuzius). Anders als ich, lebt sie seit einigen Jahren wieder in Blieskastel und zündet, auch in der Zeit der Pandemie, Tag für Tag Kerzen an.
Lange Zeit war Janosch für mich niemand anderer als der Kinderbuchautor. Sandstrand war der erste Roman, den ich viele Jahre später las und der mich nicht nur den Erzähler, Dramatiker, Philosophen, Lebenskünstler, sondern auch den unerbittlichen Kirchenkritiker und großartigen Maler entdecken ließ. Wer Polski Blues,Gastmahl auf Gomera, Cholonek oder der liebe Gott aus Lehm, Von dem Glück, Hrdlak gekannt zu haben und Zurück nach Uskov nicht kennt, kennt nicht nur Janosch nicht, sondern hat große Literatur versäumt.
2005 lud eine Kollegin, die mit dem Besitzer der Galerie befreundet war, meine Frau und mich zu einer Ausstellungseröffnung seiner Bilder ein, bei der Janosch anwesend war. Ich nahm die angestoßene und zerlesene, leicht vergilbte Taschenbuchausgabe von Sandstrand mit, und nach dem offiziellen Teil kam ich mit Janosch ins Gespräch. „Alles hat sich genau so zugetragen, Wort für Wort“, eröffnete er das Gespräch, als er das Buch in meiner Hand sah. – „Daran habe ich auch keinen Zweifel“, antwortete ich, schlug das Buch auf und las vor, was Janosch dem Buch vorangestellt hat: „Die Handlung und die Personen dieses Romans sind frei erfunden. Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist daher nicht möglich, auch nicht durch Zufall.“ In diesem Stil unterhielten wir uns noch eine Weile über Literatur, Erziehung, Schule und Kunst, dann signierte er mir das alte Buch und wurde im beginnenden Regen zum Flughafen gebracht.
2013 lud ich ihn über den Merlin-Verlag, ohne allzu große Hoffnung, ein, einen Beitrag für das von José Sánchez de Murillo herausgegebene Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik AUFGANG zum Thema „Alt sein – jung werden“ zu schreiben. Zu meiner großen Freude und Überraschung traf einige Zeit später per Mail tatsächlich sein Text „Über die Freude im Alter“ ein, ganz in dem paradoxen Stil, den ich von unserem Gespräch bereits gewohnt war: „Alter ist die Endzeit des Seins und Vorstufe des Nichtseins. Wir nehmen an, dass es richtig ist. Viel Auswahl haben wir ohnehin nicht. […] Das Alter kommt also, sofern man schon auf Erden lebt, auf jeden Fall. […] Ob das ein Glück oder Unglück ist? […] Ein Glück ist es, wenn man sich darüber und meistens freut. Ich meinerseits habe viel Freude am Alter. Das habe ich so entschieden. Soweit ein freier Wille existiert, was ich nicht glaube. […] Ich beschreibe hier, wie das gemacht werden kann. Zum Beispiel: nicht glauben, dass das Leben das ist, was es ist, sondern sich einreden, dass das Leben das ist, was man denkt, dass es ist. Das reicht schon. Mehr Anweisungen machen nur verrückt, das allein ist schon schwer genug zu verstehen.“
2016 erschien mein Buch Der Himmel ist auch die andere Erde, und ich machte Janosch in einer Mail mit einem Zitat aus der Rezension von Gotthold Hasenhüttl darauf aufmerksam. Er hielt meine Mail zunächst für einen Irrläufer („Wer ist Maria Trappen? Und welches Buch ist gemeint?“). Ich erinnerte ihn an meine Anfrage und seinen Beitrag für Aufgang 2014. „Wow!“, antwortete er. „Damit hatte ich nicht gerechnet, ich bin ja schon so weit weg. […]
Philosophie war einmal meine Heimat: von Heidegger bis nach Indien, ich habe an der Uni München keinen Guardini versäumt, vielleicht nicht alles verstanden — und jetzt geht alles, alles weg aus dem Kopf… Heisenberg war dort […] Martin Buber war da. Einer sagte: ‚Nichtwissen ist schwerer zu erarbeiten als Wissen…‘ Das ist wahrscheinlich wahr und braucht den Umweg. Unbedingt über das Wissen. Denke ich. (…) Schade, dass wir keine lange Verbindung aufnehmen können. Nichts hat mich damals mehr interessiert als das, wovon Sie reden. (…) Allah wird auf Ihrer Seite sein.“
So kamen wir wieder ins Gespräch. Er in Teneriffa, ich in Estland. Ich erinnerte ihn an unsere Begegnung in Bad Kreuznach, berichtete von der Herausgabe des Briefwechsels zwischen Luise Rinser und Ernst Jünger und der geplanten Veröffentlichung ihres Briefwechsels mit Lama Anagarika Govinda. „Bedankt bedankt,“ schrieb er zurück. „Jetzt muss ich erst einmal hoffentlich auf die Beine kommen. So ohne richtig mit den Augen zu sehen. Omeingoooottt.“ Wir philosophierten am Tag und in der Nacht: „Manchmal denke ich, es gibt keine Zeit, kein Vorher kein Nachher. Und die Zeit nach dem Tod ist schon jetzt da, also damit ist auch die Hölle und der Himmel. Jetzt. Da. Und die Zeit ist eine Illusion und keiner versteht, wie das sein kann. Und der wird davon wahnsinnig. Falls er das verstanden hat. Oder so. Ich denke immer noch, besser, nicht geboren zu werden. Das gilt wahrscheinlich nur für mich. Und Gott ist der, der zuschlägt. Blind. Und die Erbsünde ist das Geborenwerden. Erbstrafe.“
Er schrieb von der siebten Augenoperation, der zunehmenden Vergesslichkeit und seinen philosophischen Bemühungen: „Tausendmal habe ich darüber gegrübelt und bin überall hingegangen, wo ich etwas wissen wollte. Es gab dann ein Ergebnis unter dem Strich, ob richtig oder falsch, weiß ich nicht und ich weiß auch das Ergebnis nicht mehr. Und ich weiß auch nicht mehr, ob das so – fatal ist oder die Lösung. – Ich denke, das war die Lösung.“ – „Irgendwann hatte ich mal im Kopf: ‚Gott ging dann weg‘.“
Über diesen Satz und seine mögliche Bedeutung dachte ich immer wieder nach. Ich schrieb über Camus, Reiner Kunze und Gerhard Knauss, dem einmal der Name „Kant“ nicht eingefallen war. „Jeder hat seine eigene Wahrheit“, schrieb er. Und: „Es war Kant, dem der Name Kant nicht mehr einfiel.“
Ich erinnerte ihn daran, dass er in dem Film „Die Lebensreise des Herrn Janosch“ erzählt, dass er Vögel fange und in Käfige sperre, um sie danach freizulassen – damit sie wissen, was Freiheit ist. „Gott macht es genauso.“ – „Ich glaube nicht, dass Gott es genauso macht.“, antwortete er. „Da er wissen würde, WIE das geht (sie fangen), würde er sie ja alle fangen. Oder wählt er aus? Und wäre es ein Glücksfall, von ihm gefangen zu werden oder so wie bei den Vögeln: ein Unglück? Und die er auswählt, was macht er mit denen? Sind die Auserwählten dann gefangen oder erst recht frei? Und sind die freikommen, dann frei oder verflucht?“
Wir philosophierten über Gedichte, Meditation, Yoga, Musik und Wittgenstein, und Janosch resümierte schließlich: „Und der Unsinn wird immer grösser.“ – “Was hat das Leben für einen Sinn? – Zu leben. Sonst keinen. Das scheint mir logisch zu sein. Man kann noch fragen: Und was ist ‚leben‘? Und was darf das Christentum antworten?“
Da war es, das rote Tuch, die katholische Kirche, unter der er als Kind entsetzlich zu leiden hatte. Ich versuchte immer wieder, authentische Spiritualität, echte Lebens- und Gotteserfahrung von der autoritären dogmatischen Institution und ihrer Folklore zu unterscheiden. Vergebens. „Gott“ und die katholische Kirche schienen für ihn eins.
„Wenn man an den Ketten nicht zerrt, schneiden sie auch nicht ein“, schrieb er. „Wir geraten jetzt in den Urwald. (…) Ich (für mich) halte die römisch-katholische Kirche für eine ganz große Sauerei.“
Wir schrieben über seine Bilder, seine Begegnung mit Astrid Lindgren und immer wieder auch „Gott“, aber die Verständigung wurde immer schwieriger: „Sagte ich schon, dass es mir rapide schnell so sauschlecht geht, dass ich Mails nur selten noch (…) bestenfalls lesen, aber nicht mehr verstehen kann. Ich weiß da keinen Ausweg.“ – „Wenn ich bald immer noch schlechter sehen kann und die Operation nicht funktioniert, dann melde ich mich hier schon ab bis zu einem nächsten Leben.“
Seine Lebensweisheit drückte er vor meiner Abreise noch einmal so aus: „Ich möchte meinen Zustand mit keinem anderen Zustand tauschen. Vielleicht die leiblichen Schmerzen kann ich abgeben – muss aber nicht sein. Das zu ‚Wollen‘ würde mich stören. Denn ich würde es wahrscheinlich nicht so erreichen. Sie stören mich nicht besonders. Ich habe ja nicht einmal etwas dagegen, noch einmal wiederzukehren. Wenn ja ist gut und wenn nein ist auch in Ordnung. NICHTS WOLLEN. Der Katholik WILL ja etwas. Nur nicht als Katholik bitte. Dass ich kein Katholik sein will, kann ich so einrichten. Und wenn ja, dann ginge das auch. Ich glaube, irgendwo gibt es die selige Anweisung im Kosmos: NICHT TUN“
Zurück aus Estland, erwarb ich drei signierte Radierungen – 24,21,19 und ein König, Das hehre Licht der Ewigkeit, Die Leute oben und die Leute unten – die seitdem in unserem Wohnraum hängen und mich an unsere Tag- und Nacht-Gespräche erinnern.
[Foto von Christine Andres: Janosch und Benedikt Maria Trappen im Gespräch (2005)]