Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Zum 100. Geburtstag von Radovan Ivšić

Volker Zotz

22. Juni 2021. Heute ehre ich Radovan Ivšić, der vor genau 100 Jahren in Zagreb geboren wurde. Sonst kümmern mich Geburtstage nicht – weder mein eigener noch die anderer. Auch verstand ich nie, warum zu einem nach dem Dezimalsystem runden Jubiläum Menschen oder historische Ereignisse schlagartig denkwürdiger erscheinen als zu jedem beliebigen Tag. Aber bei dem 2009 im Alter von 88 Jahren verstorbenen Radovan Ivšić erlaube ich mir die Ausnahme und öffne anlassbezogen eine Flasche mit dalmatinischem Sekt aus der Produktion der Familie Grabovac in Donji Proložac. Es handelt sich um einen wahrlich köstlichen Tropfen, obwohl mein persönlicher Geschmack beim Schaumwein ein weniger blumiges Aroma vorzieht. Doch geht es darum, einen bedeutenden Surrealisten zu feiern, soll kein Opfer zu hoch sein.

Auf Radovan Ivšić stieß ich erstmals in den 1980er Jahren, als ich für den Rowohlt Verlag ein biografisches Buch über André Bretons schrieb. In der gedruckten Fassung fanden meine Manuskript-Sätze über Bretons kroatischen Freund Ivšić wegen strenger Umfangsvorgaben der Lektoren leider keinen Platz. Dafür bezog der aus dem Text Gekürzte einen ansehnlichen Raum in meinem Denken und Fühlen. Immer eindringlicher sprachen im Lauf der Jahrzehnte seine Texte zu mir – in dem, was sie sagen, wie in dem, was sie verheimlichen.

So verschweigt Ivšić in seinem Theaterstück Airia den Namen einer Frau, die der geschriebene Text nur mit Ruf- und Fragezeichen benennt: „!?…“. Ihr männliches Gegenüber Crilice will wissen, wie sie heißt. Den Grund ahnen wir: Ein Mensch, von dem man weiß, auf welche Bezeichnung er hört, scheint verfügbar. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein,“ heißt es in Jesaja 43, 1. Doch die Unbenannte besteht auf ihre Namenlosigkeit:

„Crilice: Alles wäre einfacher für mich, könnte ich dich beim Namen nennen.
!?…: Aber das ist unmöglich.
Crilice: Ohne deinen Namen verliere ich dich immer wieder.
!?…: So bin ich nackter. Und gehe ich eines Tages aus deiner Umarmung fort, werde ich dich nicht mit einem leeren Namen zurücklassen.“

Namen, geistige Entsprechungen materieller Kleider und Masken, verhüllen den Naturzustand der Nacktheit. Aber die Wahrheit, falls und soweit es sie gibt, liegt in der Blöße. Darum wird jedes Etikett, indem es Inhalte verschleiert, zum Schwindel. Es täuscht Kennen, Besitzen und Kontrolle vor. Doch wie meint Goethes Faust? „Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelsglut.“ Überzeugend bestätigt diese These sich im Schicksal jenes bösen Männchens, dessen allgemein bekanntes Lied mit den Worten ausklingt: „…ach, wie gut ist, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß!“ Als die von ihm bedrängte Königin den Namen erfuhr, konnte ihr das Männchen zwar nicht mehr schaden, entzog sich aber zugleich ihrer Gewalt, indem es zu existieren aufhörte und sie mit dem leeren Namen Rumpelstilzchen zurückließ. Es „stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in einer Wuth den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich mitten entzwei.“ So dokumentierten es die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm 1918 über jeden Zweifel erhaben in der zweiten Auflage des ersten Bandes ihrer Kinder- und Hausmärchen.

Im Wissen, dass ein an Bezeichnungen Hängender zuletzt mit „leeren Namen“ zurückbleibt, erweist Radovan Ivšić sich als ein kroatischer Verwandter des indischen Philosophen Nāgārjuna, der schrieb: „anirodham anutpādam anucchedam aśāśvataṃ / anekārtham anānārtham anāgamam anirgamaṃ.“ Wir ordnen unser Erleben in einem System begrenzender Koordinaten wie Vernichtung und Entstehen, Vergehen und Dauer, Einheit und Vielfalt, Kommen und Gehen. Diese unbeholfen beschrifteten Etiketten geben vor, in gegensätzlichen Begriffen jenen Zipfel des Unfassbaren zu fassen, den wir gerade zu umarmen glauben.

Nichts wäre für Crilice gewonnen, hätte !?…s Antwort „Sage Nadalina zu mir“ gelautet. Sie schlösse damit Dragica, Magdalena, Gertrude, Daisy und abertausende andere Namen aus, wodurch sie mit der unverwundbaren Nacktheit ihre kostbare Ganzheit aufs Spiel setzte. Wer im Sinn des Principium identitatis indiscernibilium exakt und einzig dieses ist, kann nicht zugleich ein anderes sein. Eindeutige Namen schrumpfen Wesen, Dinge und Gegebenheiten, denen man sie zuschreibt, zur Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit. Alles zu sein, heißt dagegen, nicht nur dies oder das zu sein, – es heißt nichts zu sein und eben dadurch potenziell alles. Folgerichtig liest man in Ivšićs Dichtung Mavena (1960):

Weder ja noch nein: sie ist ganz,
Ein Boot: sie muss nur still sein.
Fisch kommt traumgleich zu ihr

Durch Ruhe und Zurückhaltung findet die Beute sich am Boot ein, ohne Ja oder Nein, ohne ein Auswerfen von Netzen und Angeln. Im Nicht-Tun (無為) geschieht alles auf natürliche Weise von selbst (自然), fängt sich alles ein und spricht sich lautlos alles aus – ungestört von der Fragmentierung durch Akzeptanz und Ablehnung. Dann bleibt die Ganzheit sogar ungetrübt, wenn man nicht schweigen kann. „Sie muss nicht einmal still sein, um alles zu sagen,“ heißt es in Mavena. Derart besitzt Ivšić, der kroatische Verwandte eines indischen Philosophen, ebenso die Anlage zum chinesischen Daoisten. Bekanntlich teilen die Surrealisten mit den Vorsokratikern das gütige Fatum, keine reinen Okzidentalen sein zu müssen.

Höre ich da Zwischenrufe, – ich reiße Zitate aus dem Kontext und wage weit hergeholte Interpretationen? Dass ich Einwürfe wahrnehme, obwohl ich bei Kerzenschein allein mit der stummen Flasche aus Donji Proložac sitze, mag dem Inhalt letzterer zu danken sein. Ihm ist vielleicht ebenfalls die Antwort geschuldet: Ich liefere keine literaturwissenschaftliche Analyse. Dies ist die Festrede eines Dilettanten im ursprünglichen Sinn des Wortes. Auf diese Urbedeutung lege ich größten Wert in einer Zeit, in der Lobgesänge von Leuten angestimmt werden, für die das Wort Dilettant nur im Pejorativum gelten kann. Mancher Politiker hört beim Vortragen seiner Laudatio auf einen Dichter oder Denker erstmals, was ein Ghostwriter zu Papier brachte. Vergangenes Jahr hielt gar ein Virologe die „Schillerrede“ zum Geburtstag des Dichters am 8. November, die mit der These schloss, er sei „recht sicher: Auch Friedrich Schiller würde Maske tragen.“ Darf eine virologische Perspektive dies aus dem Wirken eines deutschen Klassikers schließen, mögen die Zwischenrufer mir gütigst gestatten, in Indien und China nach den Angehörigen eines kroatischen Surrealisten zu fahnden.

Radovan Ivšićs dramatisches Werk wurzelt in der geistigen Erde Eurasiens vom äußersten Westen bis zur östlichsten Grenze des Sonnenaufgangs. Es absorbiert Strukturen der antiken und avantgardistischen Tragödie Europas wie Gesetzmäßigkeiten des japanischen Nō-Theaters. Zu selten inszeniert man heute auf Bühnen Stücke wie Sunčani grad (Sonnenstadt 1944), die diese ästhetischen Dimensionen enthüllen. Dass den visionären Arbeiten Radovan Ivšićs für das Theater nie die gebührende Geltung zukam, resultiert nicht zuletzt aus ihrer politischen Aktualität, der kein Wechsel von Systemen und Regenten etwas anhaben konnte.

Im Drama Kralj Gordogan (1943) wird ein Stallbursche zum Nachfolger des von ihm ermordeten Herrschers. Der neue König Gorgodan entwürdigt die Menschen ohne Rücksicht darauf, ob sie ihm nützen. Jene Untertanen, die brav ihre Abgaben entrichteten, kennzeichnet der Tyrann durch das Abschneiden ihrer Ohren. Wer die geforderte Steuer nicht aufbringen kann, verliert ein Auge. Jenseits von Mitgefühl und Zweckmäßigkeit schwinden humane Standards. Die eingekerkerte Tochter des früheren Königs, dessen legitime Nachfolgerin, empfindet gegenüber Gorgodan überschwängliche Dankbarkeit. Schließlich nimmt er ihr die Arbeit ab, täglich zehntausend Menschen eigenhändig umzubringen, was die Ordnung im Reich nach dem Tod ihres Vaters erfordert.

Einerseits spiegelt sich in Kralj Gordogan die von Weltkriegen, brutalen Massenmorden, Rassen- und Klassenwahn gezeichnete Zeit des Entstehens. Was Ivšić dabei in Auseinandersetzung mit Alfred Jarry und Aline et Valcour ou Le Roman philosophique des Marquis de Sade gelang, übersteigt jedoch in der Bedeutung die historische Epoche. Das Inhumane, Unwahrhaftige und die Dummheit bahnen sich in jeder Ära und unter allen Formen des Regierens ihre Wege. Statt in einem Monarchen mag Gordogan sich in unheilvollen sozio-ökonomischen oder technischen Apparaten verkörpern. Sogar die „Herrschaft des Volkes“ bietet keine Garantie gegen die Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit, gegen Ausbeutung und den Verlust der Freiheit.

Zu Ivšićs Lebzeiten riefen in seiner Heimat nicht allein jene Inhalte eine Ablehnung hervor, die sich als Kritik an den Staatslenkern deuten ließen. Bereits das ästhetische Gewand seiner Stoffe geriet zum Ärgernis. An Ivšićs surrealistischem Stil stieß sich die am katholischen Antimodernismus orientierte Kulturpolitik der Ustaša-Regierung des Ante Pavelić ebenso wie ab 1945 jene unter Josip Broz Tito, die den sozialistischen Realismus favorisierte.

Da sein literarisches Werk nicht gefragt war, musste Ivšić, der an der Universität Zagreb geistes- und sozialwissenschaftliche Studien absolviert hatte, sich auf anderen Feldern betätigen. 1948 wurde er Direktor der neu geschaffenen Zagreber Puppenbühne, verlor diese Funktion allerdings bald. In den 1940er und 1950er Jahren betätigte er sich als Übersetzer klassischer und moderner französischer Literatur. Er übertrug Texte von Rousseau und Moliere, von Eugène Ionesco und Jean-Paul Sartre, von dem er 1951 erste Theaterstücke für südslawische Leser vorlegte.

Weil eine Existenz als Dichter sich in der Heimat schwierig gestaltete, lebte Radovan Ivšić ab 1954 hauptsächlich in Frankreich. Über Benjamin Péret fand er Kontakt zu André Breton, den Kralj Gordogan tief beeindruckte. Der kroatische Dichter verbrachte fortan einen großen Teil seiner Zeit in Paris und wurde Mitglied der Gruppe der Surrealisten, in der ihm in der Dichterin Annie Le Brun seine Lebenspartnerin begegnete. Den Kontakt mit der kroatischen Heimat gab er allerdings nie auf. Immer wieder kehrte Ivšić nach Zagreb zurück, wo er eine Wohnung in der Krežmina ulica behielt. Dort brachte er meinen Freund Richard Anders (1928-2012) unter, als dieser ab 1962 für einige Semester an der Universität Zagreb als Lektor arbeitete.

Die Jahre in Zagreb erwiesen sich als richtungweisend für Richard Anders‘ literarisches Schaffen und persönliches Leben. Hier machte ihn Radovan Ivšić mit surrealistischen Praktiken wie dem automatischen Schreiben vertraut. In Zagreb lernte Anders seine spätere Frau Rajna Jordanović kennen. Ivšić forderte Richard und Rajna auf, nach Paris zu kommen, wo sie ihn zu Treffen der surrealistischen Gruppe um André Breton begleiteten. Bretons Persönlichkeit und Ideen blieben von nachhaltigem Einfluss auf Anders und sein Werk. Davon zeugen Bände wie Die Entkleidung des Meeres (1969) und Die Pendeluhren haben Ausgangssperre (1998), die Richard Anders als einen der raren deutschsprachigen Dichter des Surrealismus ausweisen.

Nach seiner Lektüre meines 1991 auch auf Französisch erschienenen Buchs über Breton, zu dem José Pierre ein Vorwort beigesteuerte, sprach Richard Anders mich im Anschluss an einen Vortrag an, den ich in Berlin hielt. Es folgte eine lange Nacht, in der unser Gespräch bald bei Radovan Ivšić anlangte. Viel durfte ich von Anders über seinen Verkehr mit dem kroatischen Dichter in Zagreb und Paris erfahren. In Frankreich zu leben und in französischer Sprache zu schreiben, habe Ivšić einen Abstand ermöglicht von all dem, was er damals im Land seiner Herkunft beengend fand. Dies betraf neben der Kulturpolitik seinen Vater Stjepan Ivšić (1884-1962), dem er so aus dem Weg gehen konnte. Der Sprachwissenschaftler Stjepan Ivšić wurde unter anderem durch das Ivšić-Gesetz (Ivšićev zakon) zur slawischen Akzentsetzung bekannt. Wie sein Sohn Radovan hatte er Probleme mit staatlichen Autoritäten, wurde unter Ante Pavelić aus der Position des Rektors der Universität Zagreb entfernt und blieb unter Tito an den Rand gedrängt.

Richard Anders erzählte mir im Lauf der Jahre von vielen Begebenheiten, die Ivšić ihm über André Breton berichtete. Wäre mir dieses Wissen früher zugänglich gewesen, hätte der kroatische Dichter in meinem Buch kein Opfer des Rotstifts der Lektoren werden können. Eine Episode berührt mich bis heute: Breton unterzeichnete 1960 das Manifest der 121, das für die algerische Unabhängigkeitsbewegung Partei nahm. Durch seine antikolonialistische Position wurde er zum Feind nationalistischer Kreise. Es gab Gerüchte, er stünde auf einer schwarzen Liste von Intellektuellen, die mit Repressalien zu rechnen hätten. Um nicht auffindbar zu sein, zogen André Breton und seine Frau Elisa für einige Zeit zu Radovan Ivšićs in dessen Pariser Wohnung. Anders gab mir eindrucksvolle Zeugnisse Ivšićs weiter, wie Breton, der ein beträchtliches Repertoire an lyrischen Texten auswendig kannte, während des Untertauchens bei ihm stundenlang Gedichte rezitierte.

Die Schilderungen von Richard Anders beschworen Radovan Ivšić, nachdem seine Texte mich schon lange faszinierten, auch als lebendige Persönlichkeit in mein Denken und Fühlen. Das hatte etwas von Magie, was bei einem Magier wie Ivšić allerdings nicht verwundert. Auf einem Kongress über Magie und Literatur in Brazzaville erklärte er im Juni 1993, die Krise unserer Welt sei mit einer solchen der Magie verbunden, was wiederum mit einer Verarmung der Sprache zusammenhinge. Fände man Abhilfe für die Krise der Magie, ginge es wieder aufwärts mit der Welt.

Da die Krise der Magie bislang ungelöst blieb, sieht es mir leider ganz danach aus, dass eine Welt, die in die Hände der Technokratie fiel, weiterhin vom Abwärtstrend bestimmt wird. Mir bleibt nur, heute meine unerschütterliche Dankbarkeit und Anerkennung für das Leben und Werk des Radovan Ivšić auszudrücken, der es besser wusste als all jene, die heute die Marschrichtung vorgeben.

Natürlich weiß ich, dass Ivšić wie Breton offizielle Ehrungen und Auszeichnungen ablehnte. Als Eugène Ionesco seine 1970 erfolgte Berufung in die Académie française annahm, stellte Ivšić den Verkehr mit ihm ein. Literarten, Künstler und Wissenschaftler, die sich mit öffentlichen Positionen, staatlicher Alimentierung, Medaillen, Verdienstkreuzen und Sitzen in honorigen Gremien ausstaffierten lassen, taugen kaum als konsequente und kompromisslose Kritiker der Obrigkeiten. Höchst inoffiziell trinke ich darum auf den 100. Geburtstag des großen kroatischen Magiers, Lyrikers und Dramatikers und spreche diese Festrede unter Ausschluss fast jeglichen Publikums. Außer den leeren Namen Rumpelstilzchen, Nāgārjuna und Richard Anders sowie den Schatten Bretons und eines alten Daoisten scheint tatsächlich niemand anwesend zu sein. So richte ich die letzten Worte der Laudatio an den Gefeierten selbst:

Verehrter Radovan Ivšić, ich proste Ihnen zu nach dort, wo Sie nach meinem Empfinden jetzt sind, – an jenem geistigen Standort, an dem nach Bretons Worten im Zweiten Manifest des Surrealismus „Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Oben und Unten nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden.“ Den Rest der Flasche aus Donji Proložac leere ich zur Lektüre Ihrer gewaltigen Dichtung Mavena:

„…

Sie taucht ihre Arme in Wasser, um einzuschlafen.
Wenn sie erwacht, fallen kleine Tropfen von ihren Fingern, lachend
Auf den Boden: sie sind ihre Augen, alle Farben.
Darum verschließt sie sich vor den Vögeln in Furcht.

…“