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„Über die grenze des großen erlebnisses kommend“ – Reiner Kunze

Benedikt Maria Trappen

„Über die grenze des großen erlebnisses kommend“ – Mit diesen Worten beginnt das Gedicht „Ankunft in meiner Stadt“, das Reiner Kunze 1984 mit weiteren frühen Gedichten aus den Jahren 1954 bis 1956 in dem Band Gespräch mit der Amsel veröffentlicht hat. Das der – nach der endgültigen ideologischen Desillusionierung 1968 – Auswahl gültiger früher Gedichte vorangestellte Zitat traf mich ins Innerste der Seele: „Das Bedürfnis des Dichters, nach außen hin etwas zu gelten, bricht in dem Augenblick zusammen, in dem er begreift, was Poesie ist.“

Auf Reiner Kunze aufmerksam geworden war ich 1978 durch die Mutter eines Freundes, eine Grundschullehrerin. „Zaubern ist verboten! Streng!“, heißt es in Der Löwe Leopold. Fast Märchen, fast Geschichten. „Auch, wenn’s zu etwas Gutem führt? – Auch wenn’s zu etwas Gutem führt! Und warum? – Weil einer, der zaubert, mächtiger ist als die Polizei. Und das ist das Schlimmste, was passieren kann!“. Das Kinderbuch wurde in der DDR geschrieben. Sein Autor musste 1977 mit Frau und Tochter die DDR verlassen, nachdem ihm nach Veröffentlichung der Prosa Die wunderbaren Jahre bei S. Fischer in der BRD in der DDR neben dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, was einem Berufsverbot gleichkam, mehrere Jahre Haft drohten.

Für die Verfilmung von „Die wunderbaren Jahre“ schrieb Kunze nicht nur das Drehbuch, sondern musste während der Dreharbeiten auch die Regie übernehmen, nachdem der Regisseur, Rudolf Noelte – vorgeblich wegen nicht notwendiger Nacktszenen – die Regie niedergelegt hatte. Der Film, für den Kunze 1980 den bayrischen Filmpreis erhielt, berührte mich tief, nicht nur der absurden Repressalien wegen, sondern weil er junge Menschen zeigte, die sich durch Lebendigkeit, Authentizität, Integrität, Begeisterungsfähigkeit, Liebesfähigkeit und Engagement von der Jugend im Westen deutlich unterschieden. Der Verriss des Films durch Wolf Donner in Der Spiegel 7/1980 („Allzu biedere Frömmelei“, „Hang zur Gebärde edler Einfalt“, „Mischung aus beschaulicher Arroganz und dramatischem Kitsch.“) erzürnte mich und ich schrieb Reiner Kunze über den S. Fischer Verlag einen Brief. Am 18. März 1980 antwortete – Reiner Kunze war infolge der Ereignisse in Kur – seine Frau Elisabeth:

„Haben Sie Dank für alles, was Sie zum Film sagen […] Diese Jugend gibt es dort, in diesem anderen Teil Deutschlands. Und sie hat es heute noch schwerer als zu der Zeit, in der der Film spielt […] Die Hoffnungslosigkeit, die Machtlosigkeit ist’s, die Unmöglichkeit, aus den von der dortigen Regierung festgelegten Bahnen irgendwie irgendwohin auszuscheren, seinen eigenen Weg zu gehen – das verkraften Jugendliche sehr, sehr schwer (…) Aber Ihnen muß ich es ja nicht sagen. Sie ahnen das alles. Sie leiden auch unter dem Mißverständnis darüber, was für ein grundlegender Unterschied  zwischen Kunst und Politik ist. Nichts kann man dagegen tun, als weiterarbeiten. Und zusammenhalten. Ein bisschen bange ich um Sie, ob Sie das Germanistikstudium befriedigen wird. Aber versuchen Sie’s. Tun Sie dann das Beste daraus. Und schreiben Sie, versuchen Sie, Ihren Teil ans Licht zu bringen. Ich drücke Ihnen die Hand.“ Wenig später brachte die Post ein mit Widmung versehenes und signiertes literarisch-grafisches Blatt von Reiner Kunze mit einem Holzschnitt von Heinz Stein. Was für eine Überraschung, was für eine Freude…

Inzwischen hatte ich auch die Gedichtbände Sensible Wege und Zimmerlautstärke gelesen und Zeilen darin entdeckt, die mich bis heute prägen und begleiten („Retuschierbar ist / alles. Nur / das negativ nicht / in uns“). Unter die Abiturarbeit Mathematik schrieb ich 1980 sein Gedicht „NACH EINER UNVOLLENDETEN  MATHEMATIKARBEIT: „Alles / durchdringe die mathematik, sagt / der lehrer: medizin / psychologie / sprachen // Er vergißt / meine träume // In ihnen rechne ich unablässig / das unberechenbare // Und ich schrecke auf wenn es klingelt / wie du“).

Zahlreiche Briefe, Karten und Bücher gingen seitdem hin und her. Auch dem Rat Elisabeth Kunzes bin ich gefolgt. 1981 erschien mit Auf eigene Hoffnung ein weiterer Gedichtband, der nicht nur wieder viele Zeilen beinhaltete, die mir Mantra und Amulett wurden („Auch die wunder im märchen / sind verzauberte wunden des dichters“; „Und übergroßes leid und übergroße freude / müssen hindurchgehn können / durch uns“; „Es gibt ihn, den / vers ohne wunde“), sondern auch das erste Widmungsgedicht inspirierten („Schön das ‚verliebten‘ in dieser Verwendung.“)

Und wie in Der Löwe Leopold die kleine Nele überzeugt ist, dass Heidelbeeren mit Milch, ihr Lieblingsessen, den lebendig gewordenen Spielzeuglöwen bewegen würden, sie vom Dach zu holen, ging auch ich davon aus, dass meine Texte Reiner Kunze gefallen müssten, dessen Leser ich war und immer noch bin. Kunze, dessen menschliches, künstlerisches und politisches Urteil unbestechlich ist, antwortete am 29. Mai 1982: „Mein Rat: Geben Sie nichts auf mein Urteil. Ich bin offenbar nicht IHR Leser (und das muß weder etwas gegen Sie, noch gegen mich besagen.“) Einerseits natürlich enttäuscht, mehr aber von der Wahrheit und Weisheit dieser erbetenen Rückmeldung beeindruckt, begann ich darüber nachzudenken, was der tiefere Grund sein könnte für die tiefe Resonanz, die seine Texte in mir auslösten. Freiheit ist nichts, was nur von äußeren Bedingungen abhängt. Unfreiheit kann auch innere Gründe haben, Ideologie vielfältige Erscheinungsformen.

Wenige Monate später versiegte das Schreiben plötzlich. Das Geschriebene beschäftigte mich in den folgenden Jahren umso mehr. Die Sehnsucht nach Freiheit und Lebendigkeit wurde zur akademischen und politischen Revolte. Ich griff meine philosophischen Lehrer an, besuchte Veranstaltungen des RAF Anwalts Klaus Croissant, demonstrierte mit Hundertausenden im Oktober 1983 im Bonner Hofgarten gegen den Nato-Doppelbeschluss und ließ mich mit Jochen Senf, der damals noch nicht Max Palu war, in Ramstein von der Straße tragen.

Ein Autounfall im November 1983 veränderte alles und brachte mich vorläufig zur Ruhe. Die 1984 in Gespräch mit der Amsel veröffentlichten frühen Gedichte Reiner Kunzes entsprachen mit geradezu unheimlicher Präzision den Ereignissen der letzten Monate und fanden wieder tiefe Resonanz:

„Über die grenze des großen erlebnisses kommend,
fröstelnd noch im mantel der reise,
gehe ich wieder
durch meine stadt.

Sie bindet
den morgen von der stille los
[…]
Die stadt
läßt alle farben auf die straße
[…]
Die stadt
mischt gerüche unter die farben.
[…]
Nun werde ich in meinen träumen
lange unterwegs sein

Ich werde
durch die stille gehn des parkenden lärms,
der karrieren […]

Entlangeilen werde ich
am duft nackter haut
(um mehr
als nur erinnerung zu retten)
[…]
Und ich werde fahren fahren

Um jeden morgen zu erwachen
als dichter.“

Diese Dimension der Unmittelbarkeit, Lebendigkeit, Ganzheit, der Über-Sinnlichkeit, des unaussprechlichen, radikal veränderten In-der-Welt-seins war ES, in die mich der Unfall ekstatisch katapultiert hatte und deren wesentlichstes Merkmal das Schwinden des ICH war. Dichter sein, das war mit diesen Texten unzweifelhaft klar, heißt Satori erlebt haben, das „große Ereignis“, nach dem die Welt immer noch die Welt und doch nichts mehr so ist wie zuvor. Wieder schrieb ich Reiner Kunze und sprach ihn auf das in diesem Gedicht zum Ausdruck kommende, im Zen-Buddhismus alles entscheidende Ereignis an. Das zu beurteilen, antwortete er, bescheiden wie immer, stehe ihm nicht zu, das müssten andere tun…

Dass Kunst sowohl Weg zur Freiheit ist als auch Ausdruck der Freiheit, kann man im Werk Reiner Kunzes durch die Jahrzehnte verfolgen.

LEGENDE VOM GROSSEN MALER SESSCHU

Nichts nützliches tat
der schüler Sesschu, vertat
die zeit mit malen

Zur strafe ließ binden
der zenmeister ihn und werfen
in den turm

Da malte mit seinen tränen Sesschu
eine ratte, sie biß
die fessel durch

Was Poesie ist und vermag, habe ich, immer im forschenden (Brief-) Gespräch mit Reiner Kunze und seinen Gedichten, in zwei Essays zu zeigen und zu erhellen versucht. Auch Reiner Kunze hat sich immer wieder über Poetik geäußert, in Poetikvorlesungen (Das weiße Gedicht) im „Nachwort“ zu eines jeden einziges leben, vor allem aber in zahlreichen Gedichten, und dabei immer wieder auch Bezüge zum Osten hergestellt:

SCHULE DES HAIKU

Fünf silben demut
sieben silben einsamkeit
fünf silben wehmut

Auf der Suche nach Gedichten und Zitaten für diesen Text, habe ich die Briefe und Karten aus mehr als vierzig Jahren, die Gedichtbände, Kinderbücher („Das kleinste Vogelherz, das schlägt / ist nicht von Menschenhand bewegt“ – „Und jeder Mensch und jedes Tier/ ist nur für eine Weile hier“) und Einzeldrucke der Edition Pongratz, viele mit Widmungen, noch einmal dankbar zur Hand genommen. Sie waren und sind Sinn und Trost, Ermutigung und Hoffnung so vieler Jahre. Auf einer Karte vom August 1993 fand ich die höchste Auszeichnung wieder, die mir je zuteil geworden ist, zugleich Trost, Ermutigung, Mahnung und Hypothek: „Gern wäre ich Grundschüler eines so sensiblen und klugen Lehrers.“ „Unterrichte und erziehe immer so, als säße ein späterer Dichter, eine spätere Dichterin in deiner Klasse,“ lautet seitdem mein pädagogischer Imperativ. Ein kleiner Junge mit Migrationshintergrund hat diese Perspektive Jahrzehnte später mit dem Aufdruck auf seinem T-Shirt noch einmal anders akzentuiert: „One day I will be your boss.“

“Fern kann er nicht mehr sein, der tod“, heißt es in die stunde mit dir selbst (2018). Der Band enthält u.a. ein Widmungsgedicht für Günter Kunert aus dem Jahr 2013. Kunert, den ich zu Beginn der achtziger Jahre gern gelesen und in der im Herbst erscheinenden Erzählung „Maria“ mit zwei Gedichten zitiert habe, ist 2019 gestorben.

„Die Ablage für schwarz umrandete Karten,“ heißt es in einem anderen Gedicht, “leert sich…“ Und während die Zeit seit mehr als einem Jahr Pandemie bedingt scheinbar still steht, Wort und Welt sich ihm weiter entziehen, wirft Reiner Kunze sich mit seiner Frau Elisabeth immer wieder, immer noch, auch mit ihrer Stiftung, liebend vor den rollenden Stein…

Meine Anfrage, ob in dem im Frühjahr 2022 erscheinenden Band Noch immer gibt es Gedichte das Faksimile eines handgeschriebenen Briefes von ihm abgedruckt werden darf, beantwortete Reiner Kunze, der mir vor Jahrzehnten schon auf meine Bitte hin sein erstes, unveröffentlichtes Gedicht („Ton des Lebens“) samt Abdruckerlaubnis überlassen hat, am 12. Mai 2021 mit einer Karte: „Lieber Benedikt Maria Trappen, falls ich Sie weiterhin telefonisch nicht erreiche: Sie dürfen alles.“ Auch den Titel dieses Buches habe ich aus einem seiner Gedichte entliehen.