Benedikt Maria Trappen
Im April 2012 schrieb ich eine Mail an Michael Vetter, den Obertonmusiker, Maler und Lebenskünstler, dessen LP Overtones. Voice and Tambura mich seit 1983 immer wieder erstaunt und begeistert, um ihn zur Mitarbeit an einem weiteren Band des von dem Dichterphilosophen José Sánchez de Murillo herausgegebenen Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten und Musik einzuladen: Bildung – Was ist das? Vetter, der im September 2013 siebzig Jahre alt wurde, sah darin eine glückliche Fügung und sagte umgehend einen Beitrag aus dem Umkreis seines Hauptthemas „Trans-Verbal“ zu.
Um mir einen lange gehegten Wunsch zu erfüllen, planten José Sánchez, Christoph Rinser, Rüdiger Haas und ich auf meine Bitte hin für 2013 anstelle der ursprünglich vorgesehenen Tagung Medizin im Aufbruch die Tagung Musik und Spiritualität, zu der ich Michael Vetter umgehend einlud. Wieder sagte er zu, nachdem ich längere Zeit nicht mehr von ihm gehört hatte („Verzeihen Sie, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe; Ich rede mich mit gesundheitlichen Gründen heraus. Die inzwischen wieder zurücktreten. Jedenfalls habe ich mich über all Ihre Zeichen sehr gefreut!“) – eine Bemerkung, deren tiefer Ernst mir erst viel später bewusst wurde. Er starb am 7. Dezember 2013 in München an Krebs.
Auf seiner Homepage hatte er einen autobiografischen Roman angekündigt, nach dessen Erscheinen ich mich bei ihm beiläufig erkundigt hatte. Verwundert und erfreut fragte er, der mich „Mario“ nannte, nach, woher ich das wisse und ließ mir, nachdem ich mich wiederholt vergeblich bei zahlreichen Verlagen um eine Veröffentlichung des autobiografischen Romans bemüht hatte, die Dateien seiner Manuskripte Mario von Wegen: Lauf was du kannst und Der Gesang der Engel zukommen („Die große musikalische Synthese des 20. Jahrhunderts, die – geben wir es zu – eine „Jahrtausend- Synthese ist“ […] „gewissermaßen als Trost und als Dank – […], mit Wünschen, sie bitte nach Kräften zu genießen“.)
Er bedankte sich wiederholt für mein unermüdliches Bemühen, für beides einen Verlag zu finden. „Am liebsten hätte ich für die beiden Bücher ‚Engelsmusik‘ und ‚Lauf was du kannst‘ einen allgemeinen Verlag, der Nichtmusikern gegenüber aufgeschlossen ist. Zwar sind beide Bücher irgendwie ‚lehrend‘, aber sie bieten ihre Lehren unterhaltsamer Weise dar. Ich stelle mir Leser vor, die gemütlich im Sessel sitzen.“ (18. Juni 2012).
Dr. Friedrich Pfeil, der spätere Verleger meiner beiden Nietzsche-Bücher, der sich, Obertonmusik hörend, gerade in Kreta aufhielt, horchte erfreut auf und war zunächst interessiert, nahm dann aber, wie alle anderen, von einer Veröffentlichung der absehbar schwer verkäuflichen Werke aus wirtschaftlichen Gründen Abstand.
Im Mai 2021 überraschte Judita Habermann mich mit einem neu gestalteten Webauftritt der Edition Habermann und der Mitteilung, jeweils im Frühjahr und Herbst mehrere Bücher zu veröffentlichen und die von Volker Zotz 1982 gegründete Zeitschrift Ḍamaru demnächst online fortzuführen. Aus einer Fülle zur Publikation angebotener Texte entstand die Idee, im Herbst einen Band mit Gedichten und Holzschnitten Heinz Steins herauszugeben, woraus sich nach Sichtung der analogen und digitalen Speicher zwei Bücher ergaben: Worte in der Dämmerung. Gedichte und Prosa 1978 bis 1982 und Noch immer gibt es Gedichte. Der Titel stammt aus einem Gedicht von Reiner Kunze, der neben mehreren Widmungsgedichten auch mit dem Faksimile eines handschriftlichen Briefes in diesem Buch vertreten sein wird.
Jetzt fielen mir auch die beiden Buchmanuskripte von Michael Vetter wieder ein. Judita Habermann antwortete begeistert: „Michael Vetter! Das wäre doppelt schön! Einmal möchte ich das Programm ab nächstes Jahr thematisch auf Musik ausweiten (auch CDs), andererseits würde Vetter sehr gut ins eurasische Programm passen, nicht nur, aber auch wegen seiner Beziehungen zum japanischen Buddhismus“.
Ich schrieb Natascha Nikeprelevic, der Meisterschülerin und Nachlassverwalterin Michael Vetters, deren Nachruf „Zwischen Andacht und Ekstase“ 2015 in Aufgang erschienen war, und Sophie-Mayuko Vetter, der Tochter Michael Vetters, die unter den vier Zueignungen des autobiografischen Romans an erster Stelle steht. Eine Face-Time Begegnung mit ihr, der außerordentlich begabten, schönen, intensiv zugewandten, dem Leben und Werk ihres Vaters innig verbundenen („Wie lange er an diesen Manuskripten gearbeitet hat… Ich liebe und verehre ihn so sehr.“ – „Special thanks to my beloved father and genius teacher. I promise to convey his spirit of flow in every performance, all through my life.“), vielfältig engagierten Musikerin, Pianistin und Autorin („Musiker zu sein ist eine große Verantwortung – Zuhörer zu sein allerdings auch.“ – „Nimm ein Bergmassiv nicht als unüberwindbar wahr – sondern in Einheiten landschaftlicher Schönheiten, als Atmen.“ – „Man muss Wurzeln haben, um fliegen zu können.“) Mitte Mai, verzauberte und begeisterte mich.
Die Verzauberung, zu der auch ihre Interpretation des 0., 2. und 6. Klavierkonzertes Beethovens beitrug – in letzterem offenbarten sich mir Vor-Klänge seiner 9. Sinfonie – reiste mit nach Estland. Das seit 2004 oft mit meiner Frau und Tochter bereiste Land, unsere zweite Heimat, sah ich diesmal auch mit ihren Augen, und die Schönheit der Natur war durchdrungen von unserer Begegnung. „Alles Du“ oder „Fast ein Liebesgedicht“ überschrieb ich die nach dem ersten Spaziergang notierten Wahrnehmungen und Eindrücke:
Der Geruch frisch gemähten Grases
Das Grün der Bäume
Das Zwitschern der Vögel
Das Wehen des Windes
Das Rauschen des Meeres
Das Salz auf der Zunge
Das Quaken der Frösche
Das ist ES, wurde mir plötzlich klar, was Friederike Migneco in ihrem Buch Ich bin aus Dir gemacht bewegt hat. Ich, Du, Gott, Natur: Alles eins. Liebe. Nichts. Geist. Sein. Unfasslicher Traum-Stoff des Lebens…
Wie auch immer es mit der Herausgabe der Bücher Michael Vetters weitergehen mag, ein unschätzbarer Gewinn ist jetzt schon die Freundschaft der wunderbaren Sophie-Mayuko Vetter, die ihr Vater kurz nach ihrer Geburt schon in späteren Lebensjahren vor sich sah – als Dichterin, Liebende, als Zwanzigjährige und als Sechzigjährige – und deren erste Gebete und Gedichte er uns neben vielem Wunderbaren mehr in seinem Manuskript Mario von Wegen: Lauf was du kannst überliefert hat.
[Das Foto zeigt Sophie-Mayuko Vetter als Kind mit ihren Eltern in Japan. (red.)]