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„Außerkörperlich durch die Löcher des Netzes fliegen“

Benedikt Maria Trappen

1981 erschien im ersten Band des von Hans-Peter Duerr herausgegebenen zweibändigen Sammel-Werkes Der Wissenschaftler und das Irrationale ein Aufsatz des Schweizer Biologen Werner Zurfluh über außerkörperliche Erlebnisse und Wachträume: „Außerkörperlich durch die Löcher des Netzes fliegen.“ Duerr, der mit Die Mitte der Welt 1984 auch einen Sammelband über Mircea Eliade herausgegeben hat, gehörte damals mit seinem Buch Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation (1978) zu den Autoren, die philosophische Ursprünglichkeit, Authentizität und Abenteuer und damit einen Weg aus akademischem Formalismus, theoretischer Langeweile und existentieller Belanglosigkeit versprachen.

Einer meiner philosophischen Lehrer an der Universität des Saarlandes, Gerhard Knauss, der Schüler von Karl Jaspers, nach seiner Promotion 1952 Assistent von Karl Löwith in Heidelberg  und – wie Löwith ein Jahrzehnt zuvor – mehrere Jahre als Gastprofessor in Sendai (Japan) war, und der, bevor er nach Saarbrücken kam, in Heidelberg schmerzhafte Erfahrungen mit revoltierenden Studierenden gemacht hatte, war alarmiert. Zwar umgab auch ihn etwas Ursprüngliches, durchaus Unakademisches. Immer wieder verstörte er in seinen Seminaren mit sehr direkten, unmittelbaren, ungewöhnlichen, tiefen, auch persönlichen Fragen. „Sie wollen doch nicht so eine verkrachte Existenz wie dieser Hans-Peter Duerr werden?“, kommentierte er mein ausgeprägtes Interesse an Träumen, Tiefenpsychologie, Religionswissenschaft, Yoga und Schamanismus.

Knauss und mich verband, neben dem Wohnort, ein intensives Interesse an Jaspers, Kierkegaard, Descartes, Wittgenstein. Nach meinem Unfall 1983 nahm er mich öfter morgens mit dem Auto zur Universität mit. Er beneidete die Rentner, die um diese Zeit bereits in den Wäldern unterwegs waren. Oft saßen wir uns im Philosophen-Café gegenüber und sahen uns gegenseitig beim Denken und Notizen machen zu. „Einen Bleistift und ein Blatt Papier, mehr braucht man nicht zum Philosophieren,“ pflegte er zu sagen.

Mit meiner Interpretation der Träume Descartes hoffte ich, Knauss aus der Reserve zu locken. „Erst die Pflicht, dann die Kür,“, kommentierte er lakonisch. Akademisch, das wurde immer klarer, führte dieser Weg nicht weiter. Resonanz musste anderswo gefunden werden. 1983 erschien Werner Zurfluhs Buch Quellen der Nacht, das ins Zentrum der Frage nach Traum und Wirklichkeit führte; 1986 Der Geist der Deutschen Romantik des Dichterphilosophen José Sánchez de Murillo. Beide Bücher wurden zu existenziellen Lese-Erfahrungen. Zu beiden Autoren nahm ich 1987 brieflich Kontakt auf.

Werner Zurfluh, zu dessen Briefpartnern auch Michael Ende und Thomas Metzinger gehörten, antwortete erstmals am 30. Januar 1987: „Descartes ist zwar in Anmerkung 20 S.261 zitiert, aber tatsächlich habe ich in den „Quellen“ die europäische Philosophie – und nicht nur diese – aus Mangel an Wissen und vor allem aus Mangel an Zeit nicht oder nur ganz am Rande berücksichtigt. Ich selbst betrachte dies als eine grosse Lücke, die früher oder später zu schließen ist.“ In 13, zum Teil sehr ausführlichen und detaillierten Briefen – der letzte, besonders mitfühlende und ermutigende stammt vom 31. Mai 1990 – ging er immer wieder geduldig auf meine Fragen ein. Einige eindrucksvolle Zitate aus dem letzten Brief seien an dieser Stelle wiedergegeben:

“Der Schrecken der Erkenntnis packt jene, die naiv genug sind, zu meinen, Bösartigkeit sei bewusst vollzogene Gebärde und würde einen selbst nicht treffen.“

„Wirklichkeit dämmert Schritt für Schritt heller auf. Wer rückwärts schaut, sieht die Treppe in der Weite entschwinden. Schaut der Mensch wieder vorwärts, erblickt er das Vergangene als Teil des Neuen, als Teil der Erinnerung, die den Augenblick mitformt.“

„Tränen sind unvermeidbar, denn sie zeugen auch von einer momentanen Hilf- und Ratlosigkeit. Und doch sind sie Perlen, die wie Tau einen neuen Morgen ankündigen.“

„Lassen in allen Formen ist für den Menschen eine bewusste Entscheidung. Vertrauen eine bewusste Geste. Und denken tun auch die Füße, denn es fühlt und denkt der ganze Leib – in Verbindung zur Erde und zum Himmel. Mit den besten Wünschen für den Prozess einer Neugeburt.“

Zurfluh äußerte sich zu Philosophen, Psychologen, Physikern wie Heidegger, Wittgenstein, Sloterdijk, C.G. Jung, Wolfgang Pauli, Maturana, Medard Boss, Paul Tholey. Auch gab er – durchaus (sprach-) kritisch und kontrovers – Rückmeldungen zu Texten, die ich ihm während der Überarbeitung zukommen ließ und die 2014 unter dem Titel Dasselbe, das ein andres ist mit einem Nachwort von José Sánchez veröffentlicht wurden und stellte einfühlsam biografische Nachfragen und Bezüge her.

Seine Frage, ob ich denn nicht über einen elektronischen Briefkasten verfüge, verstand ich nicht einmal. Gerade erst waren die ersten Personal-Computer in Deutschland auf den Markt gekommen und ermöglichten die Textverarbeitung. Es gab noch keine Festplatten, und bernsteinfarbene Monitore waren der nächste Schritt der digitalen Revolution. Während ich meine Briefe und Texte noch mit der alten Olympia schrieb, die mein Vater mir überlassen hatte und auf der ich bis 1995 ausschließlich schrieb, schrieb er bereits am Computer und druckte seine Briefe und Texte aus. Auch die Möglichkeiten, die das Internet später für private Homepages eröffnete, nutzte er früh. Seine Website ist heute immer noch im weltweiten Netz abrufbar.

Nachdem ich vor kurzem verzweifelt nach jahrzehntealten Mails auf alten Rechnern gesucht habe, nehme ich seine Briefe jetzt mit besonderer Wertschätzung und Dankbarkeit aus den frankierten und gestempelten Umschlägen, die den Geruch von sieben seitdem bewohnten Häusern bewahrt haben. Sie werden noch lange greifbar sein, während anderes im digitalen Nichts verschwindet.

Die Mühe des Abschreibens nehme ich dafür gern in Kauf, wenn Kathy Zurfluh ihre Zustimmung zur Veröffentlichung der Briefe Ihres im Mai 2008 an Multipler Sklerose verstorbenen Mannes gibt. 2012 hatte ich schon einmal den Kontakt zu ihr gesucht und ihr einen im NTE -Report, der Zeitschrift des Netzwerks Nahtoderfahrung, erschienen Beitrag über Werner Zurfluh zukommen lassen, was sie sehr gefreut hat. Die alten, von Viren verseuchten Rechner ihres Mannes rühre sie nicht mehr an, hatte sie mich wissen lassen. Zu den analogen Schätzen, die Werner Zurfluh mir zukommen ließ, gehört das Foto eines von ihm filigran mit Filzstiften gemalten Bildes, auf der Rückseite beschriftet: „Bild A4 (Filzstift) gemalt 19.04. – 29.12.73 für Benedikt Maria Trappen mit lieben Grüssen Werner Zurfluh.“ Es liegt als Lesezeichen in meinem Exemplar seines Buchs Quellen der Nacht, in dem es heißt „[…] denn das Selbst ist unzerstörbar, nicht meßbar… Nie wurde es geboren, noch stirbt es; nie entstand es, noch wird es je wieder entstehen: ungeboren, ewig, immerwährend ist dieses Selbst – ursprünglich.“ – „Sieh! das flatternde Blatt! / Auf einem Grabhügel / bleibt es jetzt liegen!“ (S. 356 – 357).

[Obiges Bild von Werner Zurfluh ist das von Benedikt M. Trappen erwähnte Geschenk an ihn aus dem Jahr 1973. red.]