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Von Nietzsche zu Hölderlin zur Östlichen Sonne

Benedikt Maria Trappen

Zwischen Sturm und Drang, Aufklärung, Klassik und Empfindsamkeit leuchtet seit mehr als zwei Jahrhunderten eine Epoche hervor, vielfältig, vieldeutig, unergründlich: Die Romantik. Ein Erbe, das – wie jedes Erbe – immer erst noch erworben werden muss, um Besitz und künftigen Generationen weitergereicht zu werden. Eine andere Aufklärung kam in ihr zur Sprache, nachdem der Geist mit Hegel gründlich sich selbst erkannt und begriffen hatte. Der Geist, der immer in Bewegung ist, nie ruht und der das Künftige aus dem Gewesenen – dem Wort, das im Anfang war und immer noch ist – immer wieder neu hervorbringt. Dasselbe, das ein anderes ist. Eine andere Aufklärung sprach sich aus, die nicht die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge erforscht, deren Kenntnis der grenzenlosen Beherrschbarkeit der Erde, des Kosmos zu Grunde liegt, der Technik, deren maßlose und bedenkenlose Nutzung die Welt an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Sprach sich aus, dichterisch, blickte anders, tief und weit, und blieb doch wirkungslos, scheinbar, folgenlos, weitgehend unerhört und unverstanden. Sprach sich aus, fasste ihre Zeit in Worte, die innere. Zeit, die immer noch zukünftig ist. Zeit eines künftigen Seins, Zeit-Same, Wort-Same einer kommenden Welt, künftiger Menschen.

Wenige waren es seitdem, die glaubten, dieses Erbe antreten zu können. Nietzsche war einer von denen, die wähnten, leben zu dürfen und zu vermögen, was Hölderlin nur zu dichten und zu sehen vergönnt war. Wie Hölderlin war er, von den frühen Griechen fasziniert, vor allem den Vorsokratikern und deren Ringen um die widersprüchliche Einheit von Sein und Werden, an Überwindung und Erneuerung leidenschaftlich interessiert, an Vollständigkeit und Ganzheit – am ewigen Leben, hier und jetzt. An der Überwindung einer, sich in ihren existentiellen Möglichkeiten missverstehenden Metaphysik. An der Menschwerdung des Menschen, der Menschwerdung Gottes. Der Entdeckung eines gewaltigen menschlichen Potenzials, anders, als die Atomkraft, doch nicht weniger bedeutsam, gefährlich, explosiv. An der Innenseite der Naturwissenschaft und deren, für den Menschen bedeutsamen Symbolik. Ein Potenzial, dessen Verwirklichung Mensch und Erde verwandeln, den Menschen wirklich zum Menschen machen und die Erde retten und erneuern kann. „Ewige Wiederkehr“, „Wille zur Macht“ und die Vision des „Übermenschen“ zeugen lebhaft von diesem Wollen, das, wenn auch mit Fantasien von Züchtung, Beherrschung und Macht auf gefährlichen undemokratischen Ab- oder Umwegen unterwegs, sich selbst erst spät verstanden hat. Plötzlich, mit heftigster Erschütterung, blitzartig begriffen hat, dass der Mensch in seinen Urteilen sich ausspricht, Projektion der Schlüssel zum Selbstverständnis ist.

Dass Heidegger, der früh diese bedeutsame Einsicht philosophisch klar erfasst hat, sich Zeit seines Lebens so intensiv mit den Griechen, mit Hegel und Hölderlin auseinandergesetzt hat, spricht für sich. Heidegger, allzu anfällig freilich für Verführung und Macht, und doch, und doch – trotz erheblicher politischer und menschlicher Irrtümer, Fehler und Schwächen – der Sache des Denkens unbeirrt auf der Spur. Der Sache des Menschen. Der Sache Gottes. Und diese Spur führte ihn – wie Nietzsche auch – nicht nur zurück zu den Anfängen der abendländischen Philosophie, nicht nur zur Sprachkritik, zur Grammatik, sondern zum östlichen Denken, den indischen und chinesischen Philosophen, den Schulen des Buddhismus und Hinduismus, zu Yoga, Zen, Kundalini Shakti, Mahamudra, Yogachara und Tantra. Wie der einzelne Mensch in seinen dichterischen Äußerungen sich aussprechen und sich voraus sein kann, so auch der Geist einer ganzen Epoche. Die Romantik ist vorläufig, noch immer, weit ausgreifend in das, was als Zukunft auf uns zukommt. Was sich – einst – ausgesprochen und im Wort verwahrt hat, will und wird Wirklichkeit werden – einst. Das Rettende, die andere Aufklärung, deren Grundworte „Zeitlichkeit“, „Vergänglichkeit“, „Geschichtlichkeit“, „Symbolbewusstsein“, „Menschwerdung“ sind, wächst unter der Oberfläche der technischen Welt, bildet unterirdische Netzwerke, Verflechtungen, breitet sich aus, weltweit. Und der Mensch wird und muss dieses Erbe antreten und übernehmen, damit er den vielfältigen Gefahren der technisch-kapitalistischen Welt – Pandemien, Naturkatastrophen, wirtschaftlichen Zusammenbrüchen, Kriegen, Migrationsstömen – gewachsen sein wird. Er muss und wird wachsen, über sich – das kleine, enge, in sich verstrickte neurotische egozentrische ICH hinaus – sich entwickeln, ganz werden, muss und wird nicht nur tiefer und weiter denken, sondern auch fühlen und empfinden, sein.

Der zu sich erwachende, erwachsende Mensch ist universell und solidarisch. Mitgefühl und Solidarität gehören dem neuen Mensch wesentlich zu. Zu spät hat Nietzsche seine Irrtümer erkannt, seine Isolation, tiefe Einsamkeit, die ihn vom zutiefst ersehnten und bejahten Leben abschneidenden Fantasien der Macht und Überlegenheit. Das Wagnis, Experiment, das Abenteuer seines Lebens aber war echt, existentiell, not-wendig. Danken wir ihm dafür, wie Hölderlin auch, und lernen wir daraus. Das ist es, was auch Nietzsche von uns wollte, für uns wollte. „Andere müssen alles besser machen, mein Leben sowohl als mein Denken.“