Benedikt Maria Trappen
Dass die drei erhalten gebliebenen Kriegstagebücher Heinrich Bölls – drei vorhergehende hat Böll im Krieg leider verloren -, die dieser testamentarisch zwar der Forschung zugänglich machen, nicht aber veröffentlichen wollte, 2017 doch veröffentlicht wurden, ist ein Glücksfall, den wir der mutigen Entscheidung René Bölls, der Familie, dem Verlag und allen an der Herausgabe der Tagebücher in dieser gelungenen Form Beteiligten verdanken. Selbst dem mit dem Werk und den Briefen Heinrich Bölls Vertrauten öffnen diese äußerst knappen, lakonischen, fragmentarischen, dabei immer wieder wunderbar poetischen Aufzeichnungen einen Tief-Blick in den Wurzelgrund des umfangreichen literarischen und politischen Werkes, den es so noch nie gab. Die Seite für Seite beigefügten Faksimiles der Aufzeichnungen verbürgen dabei nicht nur die Authentizität der Transkription, sondern machen den Leser zum Zeitgenossen Bölls. Die Intensität des Erlebens ist so groß, dass einzelne Wörter zu extremen Ver-Dichtungen werden, deren Ungesagtes, Geschwiegenes außerordentlich gegenwärtig wird und bleibt. Das Wort als existentieller Aus-Weg, Not-Wendigkeit, Rettung eines um Fassung Ringenden. In dieser außerordentlichen Verknappung und Ver-Dichtung gründet die Poesie, die das furchtbare Dunkel des Kriegsalltags, das Elend, die Not, Angst, Sehnsucht, Verzweiflung durchstrahlt, erhellt. Immer wieder finden sich Und-Gedichte, wie Peter Handke solche Wort-Fügungen nennt, und dem Haiku ähnliche Miniaturen:
„Die bunten Kleider der Frauen und die hohen, herbstlichen Bäume.“ (S.24)
“Friede und Sonnenschein.“ (S.35)
„Odessa/ dunkle Häuser/ und schlammige Straßen“ (S.86).
„Einsamkeit und Sehnsucht“ (S.113).
„Brot und Tabak“ (S.249).
„Ein bisschen Brot und Erbarmen“ (S.260).
In wenigen Worten skizzierte Beobachtungen und Erlebnisse sind nicht zu Ende erzählte Geschichten, auch wenn Böll erst im April 1945 erstmals ausdrücklich Titel für Erzählungen notiert: „Die Nacht“ (S.29). – „Der tote Pionier“ (S.40). – Der kleine Parschin“ (S.63). – „Die Zahlmeisterin“ (S.122). – „Das kleine Fenster am Bildhauerhaus“ (S. 172). – „Kameraden und Lumpen“ (S.240).
Böll hängt am Leben, mit jedem Wort, und „Leben“ ist nur ein anderes Wort für „Liebe“. „Anne Marie. Mein Leben!“ lautet Bölls immer wiederkehrende Formel, sein Mantra, seine Beschwörung, sein Gelübde, sein Gebet.
Er notiert seine Träume, in denen seine Frau, seine Mutter, sein Vater, Freunde und Verwandte ihm nahe sind um die er fürchtet.
Und er ist sich in aller Gefahr, Unsicherheit und Todesnähe gewiss: „Gott lebt!“ (S.29). Böll betet, ruft aus der Tiefe seiner Seele zu Gott, in dessen Hand – und nur in dessen Hand – er sich trotz immer wiederkehrender Angst, Einsamkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Angst, Entsetzen, Verletzungen und der Gefahr des Irrsinns weiß (S.264). Auch diese Gewissheit nimmt er mit ins Nachkriegs-Leben, ins Werk: „Oft verstehe ich jetzt, daß man an Gottes Existenz zweifeln kann oder muß – aber Gott lebt (…) Niemals die Dankbarkeit gegenüber Gott vergessen. Niemals (S.266). – „Ich will immer daran denken, daß Gott allmächtig ist, barmherzig und gütig und mich nicht auf menschliche Geistliche verlassen“ (S.257).
Böll ist Existenzialist und Christ. Hierin gründet seine Hoffnung auf Menschlichkeit und Brüderlichkeit. „Kälte, Elend und Hunger. Niemals im Leben vergessen und niemals einen Bettler wegschicken“ (S.242).
Nicht an Gott – „Gott lebt!“ (S.65), „Gott allein kann helfen!“ (S.65) und: „Er verzeihe uns!“ (S.134) – an den Menschen zweifelt er und deren, wenn überhaupt, oberflächlichem Verständnis des Christentums: „Ich habe Angst vor dem Leben und stelle fest, daß ich die Menschen hasse (S.266). „Ungläubig sein“ ist dabei gleichbedeutend mit „zu keiner Begeisterung und Freude mehr fähig“ (S.117), eine Gefahr, in der auch sich selber immer wieder sieht.
Das wahrhafte Beten „im Geist und in der Wahrheit“, (S.69) das nicht mehr nur kindlicher Handel mit Gott sein will, muss lebenslang gelernt werden.
Neben seinen Träumen registriert Böll sensibel die Regungen seiner Seele. Das durch den Krieg radikal veränderte Dasein erscheint ihm traumhaft (S.48). In einem sonderbar und sehr geheimnisvollen Traum stirbt er, ersteht wieder und segnet alle Menschen (S.99f.). Wenig später notiert er: „Ich sterbe langsam ab“ (S.104). Und wieder später: „Ich beginne weiter abzusterben“ (S.174). Er träumt von der Geburt eines androgynen Wesens (S.216) und hält am 29.07.45 fest: „Abends geschieht etwas mit mir! – Ich kann es mir nicht erklären!“ (S. 255). Schließlich bringt er das sonderbare Erleben mit der bevorstehenden Geburt seines ersten, noch im Geburtsjahr 1945 verstorbenen Sohnes Christoph in Zusammenhang. Zeigt sich hier vielleicht noch eine ganz andere Geburt nach dem Absterben des Ich – des Menschen und Schriftstellers Heinrich Böll?
Neben der nicht enden wollenden Litanei der Abfahrts-, Warte-, und Ankunftsorte, eine Odyssee quer durch Deutschland und Europa, seinen Träumen und Beobachtungen notiert Böll immer wieder auch Leseerfahrungen – Ernst Jünger, Bernanos, Dostojewski, die Bibel, Eichendorf, Bergengruen, Marc Twain und viele, viele andere – und gibt seiner Sehnsucht nach Gedichten Rilkes Ausdruck. Unmittelbar neben dem Brot, das den physischen Hunger stillt, steht damit das lebendige Wort, anders notwendiger Geist- und Seelenstoff, ohne den der Mensch nicht menschlich leben kann.
Bölls Kriegstagebücher bringen den Leser, im Besonderen denjenigen, der den Krieg nur aus Erzählungen, Büchern, Film und Fernsehen kennt, unmittelbar in Berührung mit einer existentiellen Dimension, aus der der Mensch, wenn überhaupt, nur radikal gewandelt hervorgehen kann, wenn – ja wenn er den entblößenden Schrecken nicht allzu schnell wieder vergisst und verdrängt.
Die Herausgabe des Buches ist ein unschätzbares Verdienst, für das man allen Beteiligten nicht genug danken kann.
Heinrich Böll: Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945. Hg. René Böll, Köln 2017, ISBN 978-3-462-05020-2 22,00 €