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Normalitäten, so alt wie neu

Volker Zotz

15. Februar 2021. Menschen tragen neue Masken über ihren alten. Sie verbergen Mund und Nase, dämpfen Sprache, Atmen und Sein. Versteckt sich tatsächlich ein Sein hinter der Verhüllung? Oder ist die Maske eine Maske über einer Maske über einer Maske über einer Maske…? Eine Schicht nach der nächsten lässt sich ablegen, ohne auf den Punkt zu kommen. Verpackung ist Inhalt, Gestalt ist Leere. Henrik Ibsens zwiebelschälender Peer Gynt erkennt und beklagt:

„Das nimmt ja kein Ende! Lage um Lage!
Tritt denn der Kern nicht endlich zutage?
Nein, soll man es glauben – da ist ja keiner!
Nichts als Schalen – nur immer kleiner und kleiner!
Die Natur ist witzig! (Wirft die Reste fort.)“

So übersetzte das Christian Morgenstern, der bekanntlich viel von Leerstellen aller Art verstand. In seinem „Lattenzaun“ ließ er einen Architekten, der aus bloßen Zwischenräumen ein Haus errichtete, den Beweis erbringen: Aus Nichts lässt sich etwas machen.

Doch was hält substanzlose Schalen- respektive Maskenschichten, reine Lücken also, als Mensch zusammen. Der Kitt scheint aus zweierlei Zutaten gemischt. Da ist einmal die Lust, die Nietzsches Zarathustra zufolge „tiefe, tiefe Ewigkeit“ will. Dazu tritt die Angst vor dem unumgänglichen Nichtmehrsein.

Zwei Sätze des Buddha kommen mir in den Sinn. „Keine Gestalt, keine Stimme, kein Duft, kein Geschmack, keine Berührung fesseln Mann und Frau so stark wie jene des anderen Geschlechts,“ sagte er nach Rūpādivagga. Und laut Bhaddekarattasutta lehrte er: „Wer weiß, vielleicht kommt morgen schon der Tod. Mit der Sterblichkeit lässt sich nicht feilschen.“

Die Aussagen des Buddha weisen auf diese Pole Lust und Ende, zwischen denen ein Menschsein sich ausspannt. Solche Feststellungen über das Regiment des Triebes und die Sicherheit des Exitus sind im Grunde banal. Unter der einen oder anderen Schicht seiner Hüllen spürt dies jeder, immer. Dennoch blieben uns die Lust, die Dauern will, und das Zittern vor der Unbeständigkeit tiefe Geheimnisse.

Sigmund Freud prägte 1915 den Begriff der Urverdrängung. Was so machtvoll als Lust unseren Lebensweg bestimmt, zeigt sich nie in seiner ganzen Dichte und Fülle. Dem stärksten Trieb kompromisslos zu folgen, würde Erfolge im Kampf ums Dasein vereiteln und führte in den Untergang. Die Zwiebel wäre geschält, bevor sie heranwuchs. Also hält sich die wahre Gewalt unserer Lust verborgen. Die Urverdrängung schützt uns vor dem Trieb – oder schützt ihn vor uns.

Dasselbe gilt für die Sterblichkeit. Wie lästig käme der Gedanke daher, dass ein Atemzug wie der gerade genommene der letzte sein wird, wenn man zu Zwecken des Broterwerbs auf einen Bildschirm starrt oder die Kosten für Anschaffung eines Neuwagens berechnet. Die Selbstverständlichkeit, mit der jeder sein Existieren hinnimmt, verschleiert die Tatsache der Hinfälligkeit. Sigmund Freud wies auch auf die Unmöglichkeit hin, sich den eigenen Tod vorzustellen. Dem Bewusstsein kann gar nicht dämmern, was Aufhören bedeutet. Sogar über sein unabwendbares Nichtsein denkt etwas nach, das sich in den Zwischenräumen seiner Hüllen als Seiender erlebt. Freud schrieb in Zeitgemäßes über Krieg und Tod, jeder sei im Tiefsten „von seiner Unsterblichkeit überzeugt.“

Wie es zu diesem Totschweigen des Todes kam, erklärt der griechische Mythos. Die ersten Menschen blieben stumpf und zum Handeln unfähig, weil sie um die Endlichkeit wussten. Von Geburt an war ihnen die Stunde ihres Todes bekannt. Weshalb sollten sie sich in einer Welt einrichten, aus der sie bald getilgt würden, als seien sie nie gewesen? Der vermeintliche Triumph der Menschheit begann, weil Prometheus ihr neben dem Feuer die Fähigkeit des Vergessens schenkte. Ohne die Gabe, das Sterben zu ignorieren, wäre sogar jene des Feuers, die Grundlage allen Fortschritts, vergeblich. Den Tod aus dem Gewahrsein zu entlassen, war die Entscheidung für das Leben mit seinen reichhaltigen Möglichkeiten.

Die Kunst des Vergessens, mit der Prometheus, der Stifter der Kultur, uns beschenkte, besteht im erfolgreichen Verdrängen. Man sperrt Gedanken ans Sterben aus und agiert, als ob es einen nicht beträfe.

Doch sei es die Lust, sei es der Tod, Verdrängtes schleicht sich durch Hintertüren wieder ein. Der Trieb mag, wie Ludwig Klages in Vom kosmogonischen Eros schrieb, bei „einer alten Jungfer etwa die Gestalt der sogenannten Affenliebe zu einem Kater oder Dackel“ annehmen, also in Hunde- oder Katzenmaske auftreten. Ebenso stülpt sich der Tod die Masken der Gesundheit und des ewigen Lebens über, in alter, ewig neuer Normalität: Eine Maske über der Maske über der Maske über der Maske… und zwischen den Schichten dieser eigentümliche Kitt, der alles zum Ich werden lässt. – Noch einmal Ibsen in Christian Morgensterns deutschen Worten:

„Leben heißt – dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich.
Dichten – Gerichtstag halten
über sein eigenes Ich.“