Lama Anagarika Govinda
Da es keine Wahrheit „an sich“ geben kann, so können wir nicht von „absoluter Wahrheit“ sprechen. So wie Gesundheit eine Bedingung unseres Körpers ist, so ist Wahrheit eine Bedingung unseres Geistes. Und ebenso, wie wir nicht Gesundheit vom Körper abstrahieren können, so können wir Wahrheit nicht vom Geist abstrahieren.
Von „objektiver“ Wahrheit zu sprechen, ist ebenso irreführend, wie von „objektiver“ Gesundheit zu sprechen. Beides sind Relationen, die wir nur subjektiv erleben können.
Man mag hierauf fragen: Was ist dann der Unterschied zwischen Wahrheit und Halluzination? – Die Antwort ist: Der Unterschied ist derselbe wie zwischen Gesundheit und Krankheit. Gesundheit ist ein Zustand geistiger und körperlicher Harmonie. Harmonie gründet sich auf gewisse Gesetze, die wir aus unserer Erfahrung ableiten. Auf diese Weise bauen wir aus unserer subjektiven Erfahrung etwas auf, das eine gewisse Gültigkeit im Reiche der Wahrnehmung und unseres Denkens hat und das wir in diesem Sinne relativ objektiv nennen können.
Die meisten dieser so genannten objektiven Wahrheiten sind bloße Verallgemeinerungen gewisser Erfahrungsaspekte. Während diese Erfahrungen erlebnismäßig wirklich sind, kann dies nicht von ihren Formulierungen gesagt werden. Abstrakte Wahrheiten, in anderen Worten, sind Aussagen, die von unserem Intellekt formuliert sind, also auf einem sekundären Vorgang beruhen, während Wirklichkeit auf direkter Erfahrung, unmittelbarem Erlebnis beruht.
Wahrheit hat „Sein“ im abstrakten Sinne; Wirklichkeit hat Leben. Wirklichkeit unterscheidet sich daher von dem, was wir Wahrheit nennen, nämlich wie eine Definition von Tatsachen. Definition bedeutet Abgrenzung, in Zeit sowohl wie im Raum. In der Zeit bedeutet es, den Fluss der Ereignisse oder Vorgänge aufzuhalten, anzuhalten, zum Stillstand zu bringe; im Raume besagt es, zu trennen, die Vorgänge und Gestaltungen zu isolieren, sie aus ihrem universellen Zusammenhang zu lösen, ja selbst aus ihrer unmittelbaren Umgebung.
Definition wird so zu einer Negierung des Lebendigen, zu einer Verleugnung der Wirklichkeit, die sich in ewigem Fluss befindet, aber nicht etwas ist, das stillsteht und nur „ist“.
Es gibt keinen anderen Weg zur Wirklichkeit als unmittelbares Erleben, ja, Wirklichkeit ist Erlebnis, und je universeller das Erleben, desto größer die Wirklichkeit.