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Das Rotkäppchen-Prinzip

Volker Zotz

15. Januar 2021. Wer sich in der Kunst des freien Entscheides übt, muss allen Warnungen so genannter Experten und Autoritäten zum Trotz immer wieder eingelaufene Bahnen verlassen. Ich spreche diesbezüglich vom Rotkäppchen-Prinzip.

Wie die Gebrüder Grimm berichten, sollte Rotkäppchen sich auf Geheiß der Mutter schnurstracks zum Haus der Oma begeben, um ihr Kuchen und Wein zu bringen. „Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm.“ Da Rotkäppchen sich ganz unbefangen dem Wolf stellte, konnte dieser es auf die Schönheiten des Waldes aufmerksam machen. Das Mädchen ging bewusst vom Wege ab, um Blumen für die Großmutter zu pflücken.

Weil in der Folge Mädchen und Oma kurzfristig im Bauch des Wolfs landeten, meinen viele, die Geschichte sei eine Mahnung, stets auf festgelegten Wegen zu bleiben, wie es die – im Märchen mütterliche – Autorität vorschreibt. Aber dies ist eine oberflächliche und moralisierende Deutung.

Rotkäppchens Entscheidung, abseits ausgetretener Pfade Blumen für die Großmutter zu suchen, also ein von Liebe getragenes Vorhaben, ermöglichte eine wandelnde Erfahrung der Initiation: Das unerfahrene Mädchen ging mit der reifen alten Frau in der Dunkelheit des Wolfsmagens durch die Nacht des Todes, um als weiser neuer Mensch aufzuerstehen. Entsprechend berichten die Gebrüder Grimm im selten erzählten Schluss des Märchens, wie Rotkäppchen künftig bewusster handeln konnte:

„Es wird auch erzählt, dass einmal, als Rotkäppchen der alten Großmutter wieder Gebackenes brachte, ein anderer Wolf ihm zugesprochen und es vom Wege habe ableiten wollen. Rotkäppchen aber hütete sich und ging gerade fort seines Wegs und sagte der Großmutter, dass es dem Wolf begegnet wäre, der ihm guten Tag gewünscht, aber so bös aus den Augen geguckt hätte: ‚Wenn’s nicht auf offener Strasse gewesen wäre, er hätte mich gefressen.’ ‚Komm’, sagte die Großmutter, ‚wir wollen die Türe verschließen, dass er nicht herein kann.’“

Als der Wolf sich dann aufs Dach setzte, fasste die weise alte Frau einen Plan. „Nun stand vor dem Haus ein großer Steintrog, da sprach sie zu dem Kind: ‚Nimm den Eimer, Rotkäppchen, gestern hab ich Würste gekocht, da trag das Wasser, worin sie gekocht sind, in den Trog.’ Rotkäppchen trug so lange, bis der große, große Trog ganz voll war. Da stieg der Geruch von den Würsten dem Wolf in die Nase, er schnupperte, und guckte hinab, endlich machte er den Hals so lang, dass er sich nicht mehr halten konnte und anfing, zu rutschen: so rutschte er vom Dach herab, gerade in den großen Trog hinein, und ertrank. Rotkäppchen aber ging fröhlich nach Haus, und tat ihm niemand etwas zuleid.“

Um auf die Drohungen und Versuchungen des Wolfs angemessen zu reagieren, musste Rotkäppchen selbst im Inneren des bösen Tiers gewesen sein. Vom Wege abzugehen, war also sicher kein Fehler, sondern ein wichtiger Schritt zu notwendigen Erfahrungen. Erst beim zweiten Mal wäre es falsch gewesen, mit dem Wolf zu sprechen und den Kurs zu ändern.