Volker Zotz
[Aus dem Buch Konfuzius für den Westen. Neue Sehnsucht nach alten Werten. Frankfurt am Main: O.W. Barth Verlag 2007, S. 191-192]
Sucht man ausschließlich rationale Beweise für die Selbstverständlichkeiten des Lebens, findet man aus konfuzianischer Perspektive keine Sicherheit. Auch deshalb sagte der Meister: „Tag und Nacht habe ich schon nachgedacht, nicht gegessen und nicht geschlafen. Es war vergeblich. Lernen ist besser.“ Lernen heißt, sich der einzigen Sicherheit zu öffnen, die wir haben, der Überlieferung. In ihr schlug sich alles Bewährte nieder, das unsere Kultur zu dem machte, was sie ist. „Wiedergeben und nicht erschaffen, Treue und Liebe zum Alten.“
Die eigene Einsicht, das Denken zum Mittelpunkt und Maß zu machen, war ein bedeutendes Experiment des Abendlandes. Doch kein Mensch vermag, alles, was er zur Orientierung und zu einem erfüllten Leben braucht, kraft eigener Einsicht und Vernunft zu erkennen. Einzig der traditionell bewahrte Erfahrungsschatz kann den Menschen tragen, wo er selbst nicht sicher ist. Und wo wäre er sicher?
Die Tradition trägt die Gesellschaft und den Einzelnen auf vielfaltige Weise. Sie liefert die Sprache und die Strukturen des Denkens, in denen wir uns selbstverständlich bewegen. Sie schenkte uns die Namen, die wir selbstverständlich tragen; den Kalender, in dessen Rhythmen wir selbstverständlich das Jahr erleben. Sie bedingt die Weise, in der wir schön und hässlich, gut und böse erleben, bestimmt unsere Art zu lieben. Wer sich seine eigene Kultur nicht nach bestem Vermögen lernend aneignet, beschränkt sich auf ein stumpfes Leben, bleiben ihm doch bestimmende Motive seines eigenen Daseins und Handelns verborgen. In Unkenntnis seiner Wurzeln versteht er auch andere Kulturen nicht, weil er zum Beispiel für universell hält, was eine Eigenart seiner Herkunft ist.