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Lama Govinda und das I Ging

Thomas Wolter

Schafgarbenstängel zum Wurf des I Ging

Leben ist Wandlung. Wer bewusst oder unbewusst etwas Dauerhaftes sucht, entscheidet sich darum gegen das Leben. Doch es erfordert Mut, das Leben in seiner Dynamik, also in der Veränderung und im Vergehen, zu bejahen. Der jahrtausendealte chinesische Klassiker I Ging, das Buch der Wandlungen, richtet sich an Mutige – oder solche, die es werden wollen.
Das I Ging (Yijing 易經) zeigt, wie Wandel nicht Chaos bedeutet, sondern Gesetzen und Strukturen unterliegt. Weil deren bloß intellektuelles Erfassen kein bewusstes Leben der Wandlung ermöglicht, vermittelt das I Ging diese Strukturen der Wirklichkeit in Symbolen. Deren Botschaften werden für verstehende Menschen zu Metaphern des Weltprozesses und ihrer eigenen Biografie.

Das als das wirkungsgeschichtlich bedeutendste chinesische Orakelbuch bekannte I Ging gibt Auskunft über Möglichkeiten der Zukunft, indem es die Gegenwart in ihren archetypischen Konstellationen entschlüsselt. Diese Selbsterkenntnis durch Symbole legt Chancen zur Änderung offen: Die Schrecken, welche die Vergänglichkeit für viele Menschen hat, können so abklingen, um den Freuden inneren Wachsens und äußeren Werdens Raum zu bieten.

Lama Govinda in den 1980er Jahren, zur Zeit der Arbeit an Endfassung seines Werks über die Struktur des I Ging

Lama Anagarika Govinda beschäftigte sich während eines großen Teils seines Lebens unter philosophischen, meditativen und charakterologischen Gesichtspunkten mit diesem Buch der Wandlungen. Er erkannte es den Ideen des indischen Denkers Nāgārjuna und des Vorsokratikers Heraklit von Ephesos verwandt, in deren Licht er das I Ging verstand. Auch in der Praxis befragte er bei persönlichen Entscheidungen oder Unklarheiten des Lebens immer wieder das alte Orakelbuch. Dieses hält keine einfachen Lösungen oder Rezepte bereit, sondern antwortet in Bildern, die man wirken lassen muss, um darüber nachzudenken und zu meditieren. Die Früchte dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung legte Govinda vier Jahre vor seinem Tod in dem Band The Inner Structure of the I Ching (Tokyo and New York: Weatherhill 1981) vor.

Neuausgabe 2024, herausgegeben von der Lama und Li Gotami Govinda Stiftung mit Echo Point Books (USA).

Dieses bemerkenswerte Buch fand seit seinem Erscheinen viel Beachtung. Unter denen, die seine Bedeutung früh erkannten, war der amerikanische Philosoph Gregory Mark Tropea (1950-2010), der damals an der Chinese Cultural University in Taipeh lehrte. Er rezensierte Govindas Werk 1983 in der Zeitschrift Philosophy East and West (Vol. 33, No. 3, S. 314-316). Wie Tropea feststellte, legte Govinda mit dieser Arbeit eigentlich gleichzeitig zwei verschiedene, einander durchdringende Bücher vor, die dem Philosophen jedes für sich als eine „respektable Leistung“ gelten. Das eine Buch liefert eine textkritische Studie der ältesten Schicht des I Ging, der Trigramme und Hexagramme, indem Govinda die Beziehungen zwischen und innerhalb dieser traditionellen Sequenzen aufzeigt. Dabei legt er die grundlegende protosprachliche Dynamik der Symbole offen, die Essentielles über den Kosmos und Existenzielles über den Menschen offenbarten, lange bevor man solche Dinge in abstrakten Begriffen ausdrücken konnte. In dem anderen Buch, so Tropea, meditiert Govinda über den Sinn und die Bedeutung der Symbole und Metaphern des I Ging. Dabei berührt der Lama in weitreichenden Überlegungen zahlreiche Themen von philosophischem oder spirituellem Interesse.

Tropea hob hervor, dass Govindas Studie von Ideen des Sinologen Richard Wilhelm und des analytischen Psychologen C.G. Jung geprägt war, und erkannte in ihr „einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung einer halbautonomen westlichen I Ging-Tradition.“

Richard Wilhelm (1873-1930)

Diese moderne westliche Traditionslinie des I Ging beginnt mit der bis heute wirkmächtigen Übersetzung des chinesischen Textes durch Richard Wilhelms, die 1924 in Deutsch und 1950 in Englisch erschien. Die nächste wichtige Station war die Interpretation durch C.G. Jung, der am 6. März 1930 in der Neuen Zürcher Zeitung in seinem Nachruf auf Richard Wilhelm feststellte, das I Ging beruhe „nicht auf dem Kausalprinzip, sondern auf einem bisher nicht benannten – weil bei uns nicht vorkommenden – Prinzip, das ich versuchsweise als synchronistisches Prinzip bezeichnet habe.“ Jung hat diesen Gedanken 1952 in der Arbeit Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge ausführlicher entwickelt. Dabei kam dem Physik-Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900-1958) ein Anteil am Entstehen der Auffassungen Jungs zu. Auf das I Ging war der Quantenphysiker durch seine Lektüre der Philosophen Schopenhauer und Leibniz aufmerksam geworden.

C. G. Jung bezeichnete das Buch der Wandlungen „…versuchsweise als synchronistisches Prinzip…“

Govinda, der in den entsprechenden Gedanken Jungs und Paulis eine Parallele zu dem erkannte, was er schon in tantrischen Texten Indiens und in chinesischen Klassikern formuliert fand, markierte 1981 mit seinem Werk The Inner Structure of the I Ching die dritte Stufe dieser westlichen Tradition einer Auseinandersetzung mit dem Buch der Wandlungen.

Bewusst ließ Govinda für seine Arbeit die umfangreiche chinesische Kommentarliteratur unberücksichtigt, um seine Auslegung direkt auf die älteste greifbare Fassung des I Ging aufzubauen. Dennoch unterscheiden sich seine Ergebnisse und Erkenntnisse nicht grundlegend von denen klassischer Kommentatoren Chinas. Der Sinologe Kidder Smith, mit Werken wie Sung Dynasty Uses of the I Ching (Princeton 1990) selbst ein ausgewiesener Kenner des Buchs der Wandlungen und seiner Tradition, rezensierte Govindas Werk zwei Jahre nach Erscheinen für The Journal of Asian Studies (Vol. 42, 1983, No. 3, S. 387-389). Smith, der das Werk generell sehr kritisch bewertete, betrachtete es als „Ironie“, dass Govindas „Buch der Tradition, die er umgehen möchte, so sehr ähnelt.“ Viele Elemente und Einstellungen chinesischer Auslegungen des I Ging finden sich ebenfalls in Govindas Text, stellt Smith richtig fest. Dazu gehört die Idee, in der Struktur des I Ging spiegle sich die grundlegende Ordnung der Welt. Auch ähneln dem Sinologen zufolge die zahlreichen Diagramme, die Govindas Buch für viele Leser zu einem ästhetischen Genuss machten, in ihrer Absicht und Ausführung den Grafiken klassischer chinesischer Kommentatoren wie Zhou Dunyi (周敦頤 1017-1073) und Shao Jong (邵雍 1011-1077).

Wolfgang Pauli (1900-1958). Der Quantenphysiker sah für sich eine besondere Beziehung zum Zeichen „Zhèn“ im I Ging

Kidder Smith zweifelte nicht daran, dass Govinda tatsächlich der Urheber seiner Deutungen und Grafiken ist. Das Vorgehen des Lama und der Weg, auf dem er zu seinen Auffassungen kommt, sind unbestritten originell, trotz aller inneren Verwandtschaft seiner Ergebnisse mit denen einiger chinesischer Autoren, die Govinda nicht konsultiert hatte. Doch warum sollte man solche Parallelen als „Ironie“ betrachten, wie es der gelehrte Sinologe tut? Die Tatsache, dass Autoren unterschiedlicher Epochen und Richtungen zu denselben Resultaten gelangen, kann man ebenso als bedeutenden Hinweis darauf deuten, dass etwas in ihren Interpretationen auf eine tiefe Weise stimmig ist, wenn sie einander auf eindrucksvolle Weise bestätigen.

Wie Tropea beobachtete, verzichtete Lama Govinda in seinem I Ging-Buch auf unbewiesene abstrakte Behauptungen über die Wirklichkeit und liefert dem Leser stattdessen Mittel, um selbst zu experimentieren und unmittelbar zu erfahren. Dieses Eintreten Govindas für die Aneignung der Lehren des I Ging durch persönliche Hingabe sah Tropea im deutlichen Kontrast zu metaphysisch orientierten Abhandlungen, die vom Leser eine Zustimmung zu Aussagen erfordern, die so lange bedeutungslos bleiben, als man die Arbeit nicht selbst vollbrachte, und die überflüssig werden, sobald man die Arbeit ausführte. Lama Govinda war auch in jenen seiner Werke, die theoretisch erscheinen, vor allem ein Praktiker. Stets verstand er die eigene Erfahrung als den Schlüssel zu den Mysterien.

Einige Jahre war das Buch The Inner Structure of the I Ching vergriffen. Im Sommer 2024 wurde es von der ‚Lama und Li Gotami Govinda Stiftung‘ in Zusammenarbeit mit einem amerikanischen Verlag neu herausgegeben. Damit ist dieser moderne Klassiker in Govindas Originaltext wieder weltweit lieferbar.

Eine deutschsprachige Ausgabe erschien als Die innere Struktur des I Ging 1983 in einer ersten und zehn Jahre später in einer zweiten Auflage im Aurum Verlag. Exemplare davon sind mit ihren Farbtafeln, 22 künstlerischen Abbildungen, 57 Diagrammen und den brillanten Kalligraphien, die Meister Al Chung-Liang Huang zu dem Buch seines Freundes Govinda beitrug, heute begehrte Sammlerstücke. Leider ist die deutsche Übersetzung des englischen Originaltextes weitgehend misslungen. Wer sich theoretisch oder praktisch mit dem I Ging beschäftigte, bemerkt bei der Lektüre rasch, dass der oder die anonyme(n) Übersetzer offensichtlich keine oder nur äußerst spärliche Vorkenntnisse zu diesem Thema besaßen. Die deutsche Wiedergabe vieler Passagen verrät die Unklarheiten hinsichtlich der Aussagen Govindas. Die ‚Lama und Li Gotami Govinda Stiftung‘ beabsichtigt nach der nun erfolgten Neuausgabe des englischen Originals mittelfristig auch eine berichtigte deutsche Neuausgabe.