Ernst-Steffen Blechkolbe
„Am schönsten sind Geschichten, die nicht unbedingt stimmen müssen, aber immerhin stimmen könnten.“ Wer wollte an dieser Aussage zweifeln? Feststehende Fakten wirken fast niemals schön und in den seltensten Fällen interessant. Leider sind oder waren alle Dinge, die es gibt oder die existierten, ganz genau so, wie sie sind oder waren – und nicht anders. An nüchternen und sicheren Tatsachen lässt sich nichts deuten.
Aber Erzählungen, deren jeweiliger Wahrheitsgehalt als unsicher gilt, weil das Berichtete zutreffen kann aber nicht muss, strahlen unwiderstehlichen Zauber aus. Dieser steigert sich noch, wenn Entsprechendes in verschiedenen Varianten überliefert wird. Ist Jesus zuverlässig am dritten Tage auferstanden von den Toten? Sah der Buddha in der Nacht seiner Erleuchtung ernstlich hunderttausend frühere Welten entstehen und vergehen? Und was hat es mit Franz Kafka und der verlorenen Puppe auf sich?
Die Überlieferungen um Auferstehung und Erleuchtung wurden von zahllosen mehr oder weniger klugen Menschen kommentiert, geglaubt und bezweifelt. Aber wie steht es mit der Sache um Kafka und die Puppe? Ganz offensichtlich wurde dieses Geschehen von der Weltöffentlichkeit bislang zu wenig beachtet, obwohl es Potentiale birgt, die manches großgeredete Schlüsselereignis der Historie in den Schatten stellen könnten. Sie zeigen uns zudem einen Kafka, der so gar nicht kafkaesk erscheinen will.
Bei der Sache mit der Puppe soll es ungefähr so zugegangen sein:
Es war in Berlin, Anfang der 1920er Jahre. Kafka spazierte durch den Stadtpark Steglitz. Da sah er unweit des von Georg Kuphaldt entworfenen Rosengartens auf einer Holzbank ein kleines Mädchen sitzen. Es jammerte herzzerreißend.
„Warum weinst du, liebes Kind?“ wollte Kafka wissen.
Das Mädchen berichtete, dass seine Puppe, die allerbeste Gefährtin, die es jemals hatte, verloren ging. Unzertrennlich waren beide gewesen, solange das Mädchen denken konnte. Doch nun war die Puppe einfach fort. Das Mädchen hatte an allen Plätzen, die es im Park besuchte, gründlich nachgesehen. Doch die geliebte Freundin blieb spurlos verschwunden.
Geistesgegenwärtig lächelte Kafka: „Nein, deine Puppe ist nicht verloren. Sie begab sich nur auf eine lange und weite Reise. Das weiß ich genau, denn sie hat das in einem Brief geschrieben.“
„Darf ich den Brief sehen?“ bat das Kind.
„Er liegt zuhause auf meinem Tisch,“ sagte Kafka. „Aber wenn ich morgen um dieselbe Zeit wieder in den Park komme, bringe ich ihn sicher mit.“
Der Schriftsteller lief nachhause, um einen Brief zu schreiben, den er, wie versprochen, am folgenden Tag dem Mädchen im Park vorlas:
„Meine liebste Freundin! Es tut mir leid, dass ich dich so plötzlich verlassen musste. Aber in mir wuchs schon seit langer Zeit der starke Wunsch, in ferne Länder zu reisen, um zu erfahren, wie die Menschen an anderen Orten der Erde leben. Als mir eine nette Dame anbot, sie auf einem Schiff zu begleiten, konnte ich nicht ablehnen. Ich werde immer an die schöne Zeit denken, die ich mit dir verbracht habe. Darum will ich dir oft schreiben und berichten, wie es mir auf meiner Reise ergeht. So kannst du alles erfahren, was ich draußen in der Welt erleben darf. Vergiss mich nicht, wie ich dich nie vergessen werde.“
Das kleine Mädchen war beruhigt, dass es der Puppe gut ging, und gespannt, was sie von ihr hören würde. Während der drei folgenden Wochen traf Kafka das Kind jeden Tag im Park, um ihm ein neues Abenteuer vorzulesen, das die Puppe in der Fremde bestanden hatte. Die reisende Freundin überquerte mit einem Dampfschiff den Ozean, half in Afrika fleißigen Frauen bei der Bananenernte, ritt in Indien auf dem Elefanten eines Maharadschas und fand in einer Muschel eine Perle, als sie japanischen Fischern beim Einziehen der Netze zur Hand ging.
Kafka las die Briefe der Puppe an das Mädchen vor und ergänzte diese jeweils durch eigene Erklärungen über die Sitten der Länder, in denen sich die ferne Freundin gerade aufhielt. Aus all dem wurde klar: Die ereignisreiche Fahrt ließ die Puppe ungewöhnlich rasch reifen. Bald schon besuchte sie eine höhere Schule, die sie in kürzester Zeit mit Auszeichnung abschloss. Aus dem Puppenkind wurde innerhalb von drei Wochen eine kluge und weltgewandte Frau. In ihrem letzten Brief ging es darum, dass sie einem guten Mann begegnete und die Hochzeit plante.
„Wenn du erst erwachsen bist,“ schrieb die Puppe am Ende dieses Briefes, „wirst auch du in die Welt hinaus reisen und schnell zu mir kommen. Die Zeit mit dir wird mir ewig unvergesslich sein. Ich wünsche nichts sehnlicher als unser Wiedersehen.“
Ließ Kafka das Schicksal der Puppe tatsächlich im Hafen der Ehe enden? Gesichert und unstrittig ist dies nicht, denn es ist eine andere Variante der Begebenheit in Umlauf. Sie soll an dieser Stelle keinesfalls verschwiegen werden:
Nachdem der Schriftsteller während drei langer Wochen dem Kind täglich aus den Briefen der Reisenden vorgelesen hatte, kaufte er in einem Fachgeschäft für Spielwaren eine schöne neue Puppe in exotischer Bekleidung. Allgemein wird angenommen, dass sie einen Kimono trug. Diese Puppe übergab er dem Mädchen bei ihrer letzten Begegnung im Park. „Schau,“ sagte Kafka, „deine beste Freundin ist von ihrer langen Reise zurückgekehrt.“
Das Mädchen blickte den Mann mit großen Augen an. „Aber das ist gewiss nicht meine Puppe. Sie sieht ganz anders aus,“ sagte es.
Kafka antwortete: „Du musst hören, was deine Freundin in ihrem letzten Brief schrieb.“ Er faltete bedächtig ein Blatt Papier auseinander und las: „Erlebnisse verändern Menschen. Nach allem, was ich erfahren durfte, konnte ich nicht dieselbe bleiben, als die ich aufbrach. Doch auch wenn ich inzwischen anders aussehen mag, meine Liebe zu dir ist unverändert und bleibend. Schenke auch du mir weiter deine Zuneigung.“
Wie immer es gewesen sein mag, Kafkas Puppenbriefe sind verschollen. Wir wissen weder, was darinstand, noch wie viele es überhaupt gab. Dora Dymant (1898-1952), Kafkas letzte Geliebte, beteuerte die Existenz von etwa zwanzig der Briefe. Vielleicht wurden sie 1933 von Beamten der Gestapo beschlagnahmt, die bei einer Durchsuchung von Doras Wohnung die Papiere Kafkas aus ihrem Besitz mitnahmen.
Wir wissen schon gar nicht, wer das Mädchen war und was nach der Begegnung mit Kafka aus ihm wurde. Wie es heißt, habe man Ende der 1950er Jahre mit Annoncen in einer Berliner Zeitung nach ihm, das inzwischen zu einer reifen Frau geworden sein musste, gesucht. Vergeblich.