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Vom gelegentlichen Rückzug

Seit einigen Monaten habe ich mich auf längere Zeit weitgehend von Kontakten und öffentlichen Auftritten zurückgezogen. Ich halte mit Wenigen Zwiesprache und bleibe auf für mich Wesentliches konzentriert. Greife ich sogar in meinen nach außen aktiveren Zeiten nie zum Telefon, habe ich derzeit auch die Korrespondenz per E-Mail weitgehend eingestellt.

Solche Zeiten des Rückzugs sind in meinem Leben bewährt. Das Abstehen von Ablenkungen und Reduzieren der Einflüsse schenkt eine heilsame Konzentration, die vieles klärt und ausrichtet.

Doch um ihren Segen zu entfalten, dürfen einem solche Phasen nicht von anderen auferlegt werden. Wird man als soziales Wesen, das jeder Mensch ist, in die Isolation gezwungen, bedeutet das immer eine Form der Folter. Der von mir so geschätzte Anagarika Govinda wurde während des Zweiten Weltkrieges in Internierungslagern festgehalten. Obwohl er ein schöpferischer Mensch und großer Meditierender war, der sich ohne äußere Ansprache und Reize im Inneren zu beschäftigen wusste, hat er unter der staatlich verordneten Freiheitsberaubung sein weiteres Leben lang gelitten. Doch wenn nach einem inneren Gesetz die Zeiten reif für den Rückzug wurden, dieser also keine erzwungene Gefangenschaft ist, wirkt die Abgeschiedenheit Wunder. In kleinsten Geschehnissen macht sie für große Offenbarungen empfänglich.

In Hermann Hesses Siddhartha erfahren zwei Fährmänner im alltäglichen Rauschen des Flusses, an dessen Rand sie leben und arbeiten, die ganze Fülle des Daseins. Am Abend sitzen sie am Ufer und lauschen dem Wasser, in dem sie die Stimme „des ewig Werdenden“ vernehmen. Zuweilen steigen beiden beim Zuhören dieselben Gedanken auf, „an ein Gespräch von Vorgestern, an einen ihrer Reisenden, dessen Gesicht und Schicksal sie beschäftigte, an den Tod, an ihre Kindheit.“ Oft blicken sie einander an, „genau dasselbe denkend, beide beglückt über dieselbe Antwort auf dieselbe Frage.“

Das Rauschen eines Flusses ist ein gewaltiges Paradoxon. Es ist für am Ufer Sitzende immer dasselbe, ein kontinuierlicher Gleichklang. Und doch entspringt das Monotone dem Strömen einer Vielfalt stets frischen, immer neuen Wassers. Was unverändert scheint, sind unzählbare vorüberziehende Tropfen. Dieses Fließen taugt darum als Symbol für das Wesen aller Wirklichkeit. Was sich als beständig ausgibt, ist stete Wandlung, die in jedem Augenblick eine Fülle an Neuem zu offenbaren hätte.

Ich glaube, ein wesentliches Element der Lebenskunst besteht in der Fähigkeit, gerade das, was vordergründig als immer dasselbe vorkommen mag, in seiner Reichhaltigkeit und Verschiedenheit wahrzunehmen. Das trifft auf das zu, was mit der Metapher vom grauen Alltag bezeichnet wird. Was manche als gleichtönig erfahren, sind in Wahrheit wechselnde Augenblicke, von denen keiner mit dem vorangegangenen oder folgenden Moment identisch sein kann. Das uniforme Grau wird in Bedingungen hineingesehen, in denen sich bei genauerem Aufmerken ein Spektrum an Farben erkennen ließe. Hier wie im gleichmäßigen Rauschen des Wassers darf man die Stimme des reichen Lebens vernehmen.

Genau diese Kunst lehrt der zeitweilige freiwillige Rückzug von dem, was den meisten als normal gilt, das Reduzieren der Eindrücke. Es gibt Einsiedler, die Jahre in Höhlen verbringen, und denen ein stets wiederholtes Gebet oder Mantra spannendere Erfahrungen beschert, als es die schillernde Welt elektronischer Unterhaltungsangebote könnte. Der Abstand vom Trubel der Welt macht hellhörig, demütig und heiter. Man existiert nicht in Abhängigkeit von äußeren Reizen, sondern schöpft aus innerem Vermögen intensive Erlebnisse. Wüssten mehr Menschen um die Leuchtkraft des gelegentlichen Rückzugs von Zerstreuungen, Geschwätz und Lärm, die Erde wäre ein ruhigeres und reicheres Fleckchen im Universum.