Volker Zotz
1. März 2021. Das Mahāyāna empfiehlt jedem den Vorsatz, ein Buddha zu werden. Immer wieder begegneten mir europäische Buddhisten, die darum meinten, ihr Ziel sei, irgendwann Gautama Siddhārtha zu gleichen. Vor ein paar Jahren missbilligte ein Mann meine Skepsis gegenüber dieser Idee: Ohne die Aussicht, dabei dieselbe „Erleuchtung“ wie Gautama zu erlangen, erschiene ihm eine buddhistische Praxis zwecklos.
Ich fasse den Anspruch genügsamer. Statt mich am überlieferten Übermenschen mit epochemachender Erkenntnis zu messen, orientiere ich mich am Wort: Buddha bedeutet Erwachter, was auf alltägliches Erfahren weist. Jeder erwacht aus dem Schlaf, erlebt Übergänge aus dumpfen in wachere Zustände. Als Erwachen lässt sich auch das Reifen aus kindlicher Bewusstheit zum komplexeren Wahrnehmen des Erwachsenen verstehen. Erwachen scheint mir als natürlicher, nie beendeter Prozess, bei dem es Einzelne offenbar unterschiedlich weit bringen.
Das Ziel Buddha meint in diesem schlichten Verständnis ein Steigern der Aufnahmefähigkeit. Größere Wachheit vermehrt die Freiheit. Je bewusster und offener ein Mensch wird, umso mehr Möglichkeiten der Wahl sieht er.
Dies kann ins Gegenteil kippen wie bei der aktuellen Mode der Achtsamkeitskurse, die von buddhistischen Methoden angeregt sind. Im frühen Buddhismus vermittelte das Einüben von Wachsein ein Bewusstsein der Anhängigkeit, zeigte Übenden die Bedingungen, die sie entstehen lassen. Das Mehr an Freiheit kam, was paradox scheinen mag, aus dem Erfahren von Unfreiheit: Mein Dasein wurzelt in anderem.
In den heute kommerzialisierten Varianten dient Achtsamkeit vordergründig der Selbstoptimierung, hintergründig dem besseren Funktionieren als Zahnrad im Getriebe großer Konzerne, die ihre Mitarbeiter gern auf entsprechende Seminare schicken. Bald darf man dort die Kursgebühren einsparen, wenn erst ein ins Gehirn implantiertes Modul die gewünschte Achtsamkeit technisch generiert. Diese wäre dann zwar perfekt. Aber bewirkt künstlich erzeugtes, zweckgerechtes Wachsein noch Freiheit?
Ein aufschlussreiches Gleichnis für das Werden eines Buddha überlieferte im 7. Jahrhundert der chinesische Philosoph Xuanzang in Da Tang xiyu ji (大唐西域記). In Indien hörte Xuanzang eine Legende über das Entstehen der ersten Buddha-Skulptur:
Lange suchte man vergeblich einen Künstler, um für den Tempel von Bodhgaya die Statue des vollkommen Erwachten zu schaffen. Endlich tauchte ein Mann auf, der den Auftrag annahmen. Er bat um eine Lampe, einen Haufen Erde und ein halbes Jahr ungestört im Tempel. Doch die ungeduldigen Auftraggeber hielten das Warten nicht durch und öffneten schon nach vier Monaten die Tür.
Sie fanden den Mann nicht, standen aber vor einer lebensechten Plastik des Buddha, die sich allerdings als nicht vollendet erwies. Eine Stelle über der rechten Brust war nicht modelliert. Das Entstehen des wunderbaren Werks schien unerklärlich wie das Verschwinden des Urhebers, bis ein durchreisender Mönch im Tempel übernachtete. Diesem gab sich der geheimnisvolle Künstler im Traum als der künftige Buddha Maitreya zu erkennen. Man krönte darauf die wunderbare Statue mit einem Diadem und schmückte die unfertige Stelle mit einer Kette aus Edelsteinen.
Die Erzählung verrät einiges, wie ein Buddha entsteht. Kein Künstler taugte zu seinem Erschaffen, denn niemand kann sich höhere Wachheit vorzustellen, wie kein Säugling sich das Bewusstsein des Achtjährigen und dieser sich nicht die Wahrnehmung des Pubertierenden auszumalen vermag. Konzepte und Spekulationen bleiben zwecklos. Wachwerden lässt sich nie in Worten und Bildern ausdrücken, sondern nur verwirklichend erleben. Darum demonstrierte Maitreya, wie einem Buddha nur der angemessen Gestalt verleiht, der selbst zum Buddha wird.
Auf diesem Weg des Buddha-Werdens helfen keine Pläne und Strategien. Weder Willensakte noch Berechnungen bringen weiter, weil große Vorhaben nie vom Ich verwirklicht werden. Ziele, die sich nicht von selbst erreichen, erlangt man nie. Das regelmäßige Scheitern anspruchsvoller Vorhaben, die wohl überlegt und mit Aufwand vorbereitet wurden, führen uns Politiker seit Beginn historischer Aufzeichnungen vor.
Wenig wache Menschen schwanken zwischen den Extremen passiven Duldens und dem Aktionismus ehrgeiziger Änderungsversuche. Buddhaschaft verlangt dagegen die Kapitulation des stumpf ertragenden oder fruchtlos kämpfenden Ichs. Maitreya, der werdende Buddha, muss ans Werk gehen, denn jeder andere Künstler, den ich aufbiete, versagt mit Sicherheit.
Dass Maitreya „der Liebende“ heißt, weist auf das, was in mir reifen will. Die Anlage der Liebesfähigkeit ist der erfahrbare Keim höheren Wachseins. Liebe weist immer über die gegenwärtigen Grenzen, sprengt das Ich. Diese Sehnsucht, über mich hinauszugelangen, richtet mich auf das Ziel des Wachwerdens oder der Buddhaschaft aus, das sich durch mich erreichen will.
Allerdings wird Maitreya seine Arbeit auch an mir nicht vollenden. Das Werk des Liebenden bleibt Stückwerk. Die von Xuanzang wiedergegebene Erzählung macht dafür neugierige Auftraggeber verantwortlich, die Maitreya nicht die geforderte Frist gewährten. Erwachen erfordert Ausdauer, lautet die Botschaft. Statt der Hoffnung, rasch Spektakuläres zu erfahren, braucht es Beharrlichkeit.
Doch aller Geduld zum Trotze, sogar wenn ich Maitreya im Inneren meines Tempels ungestört schaffen lasse, ich gelange an kein Ende. Wie die unfertige Statue lehrt, wird die Zeit zum Erreichen des Ziels nicht genügen. Stets reißt die Realität zu früh die Pforten auf. Nicht ich entscheide über das Ende meiner Tage und wofür sie ausreichen durften. Der in Auftrag gegebene Buddha verkörpert die Richtung einer Bewegung, keinen Schlusspunkt, an dem ich eintreffe. Erwachen ist nicht das Prachtstück, mit dem ich die Sammlung im Museum meines Lebens komplettiere, sondern ein Prozess, in dem ich mich befinde, – ein Prozess, der ich bin, der mich zugleich aufzehrt und formt.
Beim Schaffen der Skulptur verschwand der Bildhauer spurlos: Der alte Mensch löste sich auf, um einem neuen in Gestalt des Buddha Raum zu geben. Zwar blieb dieser neue Mensch unvollendet, doch überzeugte die Statue dennoch oder gerade deswegen. Das Verzieren der unfertigen Stelle muss man nicht als Verstecken eines Mangels deuten. Tiefer Sinn liegt im Schmücken des Unabgeschlossenen.
Man wird als genau jene Persönlichkeit wach, die man ist, mit den eigenen Kanten und Mängeln. Gäbe es ein bis in die Details verbindliches Muster des Wachseins, wären alle Erwachten identisch. Doch jeder macht sich mit Erfahrungen, Talenten, Vorlieben, Interessen und Beschränkungen, die ihn von allen unterscheiden, auf den Weg des Erwachens. Darum bringt dieser Unikate statt Klone eines Modells hervor.
Ein solcher Einzigartiger muss anderen nicht auffallen. Buddha-Werden heißt selten, die Rolle des Dichters, Denkers oder barmherzigen Heiligen zu spielen. Ob niemand ihn erkennt oder viele sein Tun schätzen, weder sucht noch scheut der Erwachende den Respekt. Allem verleiht er Gewicht. „Wer Gartenpflege betreibt,“ schrieb Valentin Tomberg in Le Mat itinérant, „kann ein magisches Werk von größerer Bedeutung vollbringen als derjenige, der die sieben Planetengeister beschwört.“
Im Erwachen lässt man sich auf einen Prozess ein, der unvollendet bleibt. Nicht abgeschlossen zu sein, heißt offenzustehen. Vollendung führte wie jeder Abschluss zum Stillstand. Vollendete Wachheit und damit totale Freiheit gäbe es nur im Unbewegten, dem Nichts. „I hate to tell you, mister, but only dead men are free,“ heißt es in Bob Dylans Gedicht Murder Most Foul. Jedes Seiende beschränkt, doch macht dadurch zugleich beweglich.
Der Erwachende wohnt im Imperfekt, Unvollendeten, Wandelbaren. Seine Haltung widerspricht dem Perfektionisten, dessen Tun an ein Ende gelangen soll. Der Perfektionist pflegt Bilder, wie die Menschen und Dinge, er selbst und seine erhoffte „Erleuchtung“ zu sein haben. Er setzt damit starre Normen. Doch was er für perfekt hält, bleibt ein erdachtes Mittelmaß.
Kenkō Yoshida, ein japanischer Einsiedler des 14. Jahrhunderts, liebte abgegriffene Schriftrollen und bedauerte jene, die auf gleiche Weise eingebundene Texte nach einem regelmäßigen Schema im Bücherkasten anordneten. In Tsurezuregusa (徒然草) schrieb er: „Perfektionismus ist in allem schlecht. Unfertiges belassen können, wie es ist, besitzt eine eigene Anmut und gewährt unverkrampfte Gefühle. Man berichtete mir, dass beim Bau des Kaiserpalastes absichtlich etwas unvollendet bleibt. Mir gefällt auch, wenn die Texte der alten konfuzianischen und buddhistischen Meister Teile enthalten sollen, die man in ihnen gar nicht findet.“
Der Perfektionist verirrt sich im äußerlich Optimalen. Ihn blenden Ordnung, Symmetrie und Vollständigkeit. Wer Perfektion will, gleicht dem Pedanten, der lieber im brennenden Haus stirbt, als in der alten Hose zu fliehen, der ein Knopf fehlt.
Ich muss mich so auf den Weg machen, wie ich bin, im Vertrauen auf das Werden, ohne Anspruch auf Vollendung. Alles Große bleibt unvollendet – aber wirkt. Goethe meinte 1811 gegenüber Friedrich Wilhelm Riemer, kein Autor könne ein Werk abschließen, wenn er sein Thema erschöpfen will. Das Prinzip brachte er auf den Punkt: „Das Unzulängliche ist produktiv.“