Volker Zotz
1. Februar 2021. In den vergangenen Tagen las ich viel in den Heiligen Schriften des Theravāda, eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Neben offensichtlichen Perlen der Weisheit bergen sie manchen Stolperstein. Doch sind Hindernisse mindestens ebenso wertvoll wie das unmittelbar Erbauliche. Beispielhaft für Texte, die Widerstand erzeugen können, ist Jātaka 547, die in Südasien populäre Geschichte von Vessantara, einem vormaligen irdischen Dasein des späteren Buddha Gautama.
Der Königssohn Vessantara fasst früh im Leben einen Vorsatz, den er unbeirrt umsetzt: Er will vollkommen freigiebig sein, ohne Kompromisse und Hintertüren. Während einer Dürreperiode verschenkt er darum den wundertätigen Elefanten, von dem man glaubt, seine Magie spende Regen. Das von der Trockenheit geplagte Volk setzt daraufhin Vessantaras Verbannung durch.
Dieser fährt mit seiner Ehefrau und zwei Kindern in der Kutsche ins Exil. Bald verschenkt er die Pferde und den Wagen, was seine Angehörigen zum harten Fußmarsch zwingt. Als jemand meint, er könne Vessantaras Kinder als Diener seiner anspruchsvollen Ehefrau brauchen, stimmt der Vater zu. Die verzweifelten Kinder verstecken sich vergeblich in einem Teich. Vessantara überlässt sie dem Fremden, um durch vollkommene Freigiebigkeit auf dem Weg zur Buddhaschaft voranzuschreiten. Lange sucht die Mutter ihre Kinder, bis Vessantara ihr seine einsam getroffene Entscheidung gesteht. Schließlich begehrt ein alter Mann die Ehefrau des Prinzen, die dieser gleichfalls bereitwillig abtritt.
Zum Glück für die verschenkte Gattin entpuppt sich ihr Empfänger als eine Gottheit inkognito, die nachforscht, ob Vessantaras Gebefreudigkeit tatsächlich bis zum Äußersten reicht. Weil er damit die Prüfung bravourös besteht, bewirken weitere göttliche Interventionen die Rückkehr aus dem Exil und das Wiedersehen mit den Kindern. Zudem wird Vessantara unerschöpflicher Reichtum gewährt, wodurch er fortan immer genug zum Verschenken besitzt. Nach seinem Tod gelangt er in eine Himmelssphäre, von wo er später als Gautama Siddhārtha auf Erden geboren wird.
Die Geschichte lässt sich als unfreiwillige Parodie auf die Freigiebigkeit lesen, die sie propagieren soll. Der Held überdehnt die edle Tugend so weit, dass mehr Trübsal als Heil folgt. Wer als Regierender dem Willen des Volkes zuwiderhandelt, als Vater seine Kinder wissentlich ins Leid schickt und seine Frau auf dessen Anfrage einem Lüstling zuführt, demonstriert statt hehrer Opferbereitschaft erschütternde Verantwortungslosigkeit. Um dem eigenen Anspruch der Hingabe gerecht zu werden, schadet Vessantara Hilflosen zum Vorteil von Schamlosen. Der Doromanie verfallen, geht ihm im Rausch des Schenkens jeder Respekt vor der Integrität anderer verloren.
Jātaka 547 erinnert mich an eine im Ṛgveda und in der Kaṭhopaniṣad überlieferte Episode. Hier opfert der Brahmane Vājaśravasa rituell seinen gesamten Besitz, den er hauptsächlich in einer Rinderherde sieht. Sein Sohn mahnt, ein vollständiges Opfer müsse alles einschließen, was einem gehöre, selbstverständlich auch das eigene Kind. Vājaśravasa opfert daraufhin den Sohn dem Gott des Todes. Später kehrt der Sohn mit Aufschlüssen über wesentliche Geheimnisse des Daseins, die der Gott gewährte, zum Vater zurück.
Wie oft im indischen Buddhismus verlagert die Legende von Vessantara, etwas ins rein Ethische, was die frühere indische Tradition auf ritueller Ebene fasste. Ob Vessantaras nicht-rituelle Haltung des Gebens ethisch jedoch höhersteht, lässt sich bezweifeln. Vājaśravasa opfert den Sohn erst auf dessen eigene Aufforderung, während Vessantara seine Kinder dem Ersten schenkt, der danach fragt.
Was in der buddhistischen Geschichte vorbildlich daran sein soll, seine Kinder und Ehefrau bereitwillig anderen zu überlassen, schien schon im Altertum erklärungsbedürftig. Im Buch Milindapañha (IV, 8, 1 – 17) fragt der im 2. vorchristlichen Jahrhundert regierende griechische König Menandros den buddhistischen Mönch Nāgasena: „Was nur hat ein Mensch, der Verdienstvolles leisten möchte, damit zu schaffen, anderen Kummer zu bereiten! Sollte er sich stattdessen nicht selbst hingeben?“
Nāgasena meint auf diesen Einwand des gesunden Menschenverstandes, der künftige Buddha habe beweisen müssen, wie er sich sogar von denen zu trennen vermag, die ihm mehr bedeuteten als er sich selbst. Mir leuchtete diese Begründung nie ein. Vessantara demonstrierte genau das Gegenteil: Sein eigenes Prinzip des Gebens war ihm wichtiger als Frau und Kinder, die er fortgab wie eine gefühllose Münzsammlung, an der ihr Eigentümer irgendwie hängt, von der er sich aber auch trennen kann, wenn es um das höhere Ziel eines neuen Autos geht.
Wie Nāgasena weiter argumentiert, habe Vessantara damit rechnen können, sein reicher Vater würde die Enkel früher oder später auslösen. Das heißt im Klartext: Konsequenzen meiner Taten dürfen mir gleichgültig sein, denn andere bringen das von mir Angerichtete wieder in Ordnung.
Menandros akzeptiert Nāgasenas Erklärungen. Das darf in Milindapañha gar nicht anders sein, schließlich ist der Text eine gewaltiges buddhistisches Bekehrungsepos. Weil mir die Begründungen für Vessantaras Großmut in Milindapañha nie einleuchteten, gedachte mir das Schicksal eine Rolle in einem späten Satyrspiel zu, das es zur Debatte des Menandros mit Nāgasena über Jātaka 754 schrieb.
Im Oktober 1988 war ich Delegierter bei einer internationalen buddhistischen Konferenz im Pariser UNESCO-Gebäude. Unter den Teilnehmern fand sich ein Theravāda-Mönch, der einen Diplomaten und Politiker aus einem südasiatischen Land als Berater begleitete. Als eine Diskussion zwischen diesem Mönch und mir zu zum Thema Vessantara kam, zitierte der Mönch gegen meine Bedenken zunächst Milindapañha, um dann eine besondere Keule zu schwingen.
In mir, beklagte er, treffe er wieder auf ein typisches Beispiel dafür, dass den meisten im christlichen Umfeld aufgewachsenen Menschen die Wahrheiten des Buddhismus letztendlich unverständlich blieben. Hätte ich das Geringste begriffen, wäre mir die Lehre vom Karma geläufig. Es sei lediglich die Frucht ihrer Übeltaten in früheren Leben, wenn Kinder gegen ihren Willen fortgegeben wurden. Die Ehefrau Vessantaras verfügte über besseres Karma, weshalb sie an einen Gott verschenkt wurde, der ihr nichts antat. Jedem geschehe zwangsläufig das, was er verdiene.
„Also,“ erwiderte ich, „weil ich im früheren Dasein schlechter handelte als Sie, wurde ich im Unterschied zu Ihnen in einer Gegend geboren, die das Verstehen der Wahrheit erschwert.“ Er bejahte lebhaft und lächelte sichtlich erfreut, dass ich dank seiner Aufklärung zumindest ein Zipfelchen Wahrheit erhaschte.
Doch blieb ich uneinsichtig. Die Interpretation des Mönchs, es geschehe anderen recht, würde man sie absichtlich Peinigern übergeben, machte erkennbare Opfer durch bloße Spekulation zu Tätern, was Vessantaras Geschichte noch bedenklicher scheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Ich sagte dem Gesprächspartner, dass ich weder beurteilen könne noch wolle, wer aus welchen Gründen etwas verdiene. Der objektive Lauf der Gerechtigkeit entziehe sich meiner Erkenntnis. Mir gehe es lediglich um mir Zugängliches, was in diesem Fall die subjektive Seite sei, die Intention des Handelnden. Diesbezüglich habe der Buddha gelehrt: „Wer eigenes Glück durch die Leiden anderer erstrebt, ist in Hass verstrickt.“ (Dhammapada 291)
„Der künftige Buddha,“ sagte der Mönch bedeutungsvoll, „war schon als Vessantara vollkommen frei von Hass. Gerade das hat seine Freigiebigkeit bewiesen.“ – Wir drehten uns im Kreis.
Denke ich heute, nach 33 Jahren, an dieses Gespräch in Paris, scheint mir die Bedenkenlosigkeit des Mönchs so berechtigt wie mein Bedenken. Im traditionellen Sinn frommen Buddhisten bietet Jātaka 547 vor dem Hintergrund des Wissens um die sichere Buddhaschaft im folgenden Leben erbauliche geistliche Nahrung. Nichts im Fortschreiten eines künftigen Buddha kann schlecht sein. Vessantara offenbart das Wunder eines Wesens, das alles Hängen und Haften überwunden hat.
Mir fallen jene Strömungen des indischen Denkens ein, die das Geschehen der Welt als göttliches Spiel deuten. Alles verhält sich anders, als der Schein nahelegt. Die klassische Biografie Lalitavistara entfaltet den Werdegang des Buddha unter diesem Blickwinkel. Er wird als vollkommenes Wesen geboren. Obwohl er alles weiß und kann, passt er sich dem Brauch der Welt an und simuliert eine Entwicklung, derer er in Wahrheit nicht mehr bedarf. Er hat nichts zu lernen oder zu erstreben und stellt doch Lerneifer und Strebsamkeit zur Schau. Wir Verblendeten brauchen das heilige Drama, das zwischen Tragödie und Komödie pendelt, um den rechten Weg zu finden. Vessantaras Freigiebigkeit lässt sich als derart theatralische Inszenierung sehen: Der werdende Buddha mimt den absoluten Verschenkenden, obwohl er auf ewig alles im Überfluss oder – je nach Betrachtungsweise – überhaupt nichts besitzt.
Wer im Unterschied zum Frommen – sei es durch schlechtes oder gutes Karma – den Text als das nimmt, was er buchstäblich sagt, dem vermittelt sogar die bestwillige Lektüre einen bitteren Nachgeschmack. Frauen und Kinder lassen sich wie Sklaven verschenken, wenn es dem Erlangen der Buddhaschaft dient. Erhabene Zwecke heiligen demnach abseitige, leidbringende Mittel. In Vessantaras Überzeugung muss das Gegebene unwiederbringlich dahin sein. Wüsste oder ahnte er, dass er nach dem Beweis äußerster Bereitschaft mehr empfängt, als er gab, wäre es keine Prüfung.
So findet, wer karmabedingt nüchtern zu lesen hat, wie es bei mir oft der Fall ist, viel Inkonsistentes. Die Götter statten Vessantara nach der Prüfung mit unerschöpflichem Reichtum aus, damit er jedem alle Wünsche erfülle. Was aber, wenn einer kommt, der wieder die Frau oder die Kinder im Sinn hat? Lässt sich das auch pekuniär abgelten, oder geht das ganze Spiel dann von vorne los?
Je weiter man Geschichten wie diese analysiert, auf logische Ungereimtheiten und ethisch Problematisches abklopft, umso abstruser werden sie. Kann man sie fromm hören, wie ein Kind die Erzählung vom Wolf und den sieben Geißlein aus Grimms Märchenbuch, ist alles ganz einfach. Auch da werden die Sachverhalte kompliziert, sobald man als Leser feststellt, dass Säugetiere nicht wie Menschen reden und Ziegen keine Uhren im Haus haben.
Für den Gläubigen demonstriert die Geschichte von Vessantara auf wunderbare Weise eine Lebensweisheit: Höchsten Errungenschaften geht vollkommener Einsatz voran. Nur wer alles aufgeben kann, erlangt höchste Ziele. Punkt.
Verlässt man die Ebene des Glaubens und deutet das wunderbare Geschehen rational, reiht sich ein Problem ans nächste. Das gilt nicht nur für mich tendenziell Ungläubigen, sondern ebenso für den gläubigen Mönch. Um die Pein der Kinder verstandesmäßig zu begründen, erklärte er sie zu Schuldigen. Vessantara, der für die Autoren das edle Motiv der Hingabe personifiziert, die ihn der Buddhaschaft würdig macht, wird so zum Vollstreckungsgehilfen einer unbarmherzigen Weltordnung.
Ob in überlieferten Märchen oder im täglichen Leben: Wunder kann man glauben; über Wunder kann man staunen. Ein erklärtes und vernünftig ausgesponnenes Wunder bleibt keines. Es geht in abstrusen Systemen verloren, die weder Glaube noch Wissen sind.
(Das Bild zu diesem Beitrag zeigt ein Wandgemälde eines thailändischen Tempels: Vessantara entschließt sich zum Verschenken seines Wagens. red.)