Benedikt Maria Trappen
Alles Wissen über Zen – Geschichte, Überlieferung, Schlüsselwörter – gehört zum Finger, der auf den Mond weist. „Eine Überlieferung von Herz zu Herz jenseits der Schriften“ bringt das deutlich zum Ausdruck. Bücher, Denken, Erkenntnisse können Schritte auf dem Weg sein, müssen letztlich aber überwunden, zurückgelassen werden. Wenn es ein Wort gibt, das bezeichnet, worauf es ankommt, ist es Satori: Eine Erfahrung, die unsagbar ist und ohne die Zen nicht Zen ist. Wird sie auch nur um Haaresbreite verfehlt, ist nichts erreicht.
Eine der sublimsten Gefahren des Zen-Weges ist, dass das Ich, um dessen Überwindung, Aufhebung es letztlich geht, an bedeutsamen Erkenntnissen hängt und sich dabei aufbläht, für wichtig hält und erhält. Satori ist ein Ereignis, das die Wichtigkeit, zentrale Stellung des Ich auslöscht. Der Anlass kann, oft nach Jahren und Jahrzehnten intensiven Bemühens, zufällig und bedeutungslos sein. Ein Klang, ein Anblick, ein Wort, ein Schlag oder Sturz. Im Nu ist alles verwandelt. Glückseligkeit durchströmt, überflutet, überwältigt den Menschen. Angestrengtes Suchen, lebenslange Sorge lösen sich auf in übergroßer Freude, Erleichterung, Freiheit, Spontaneität. ES ist das Absolute, was in diesem Überfließen, unsagbar, erfahren wird. Ein energetisches Ereignis, das den Menschen reinigt, leert, heilt und von einem eingebildeten Jemand zu einem Niemand macht. Leere, die Fülle ist. Wie in der Kindheit ist die Welt wieder offen und weit, hat der Mensch Zeit und geht, selbstvergessen, im Tun des Nächstliegenden auf.
Nichts hat sich geändert, und doch ist alles anders.
Welche Prozesse sich dabei im Körper, in den Organen, im Gehirn abspielen, ist immer noch weitgehend unbekannt. Die Wissenschaft mit ihren modernen Methoden ist bei diesem Ereignis nicht dabei. Bestenfalls können Korrelate des veränderten Bewusstseins und seelischen Erlebens zeitnah gemessen und bestimmt werden: Die Aktivierung von Hirnarealen, Ausschüttung von Botenstoffen, Frequenzen von Hirnwellen, Spannung in den Muskeln. Die Numinosität des Erlebens auf der phänomenalen Ebene ist unzweifelhaft: Es geschieht das Wunderbare, Göttliche, Transzendente. Unzweifelhaft sind auch die Auswirkungen des Erlebten. Das In-der-Welt-Sein hat sich grundstürzend gewandelt, der Welt- und Selbstbezug ist verändert. Das unsagbare psycho-physische Ereignis wirkt heilend und befreiend, ist – nicht nur anthropologisch, sondern auch ontologisch – auf außerordentliche Weise wirk-lich. Körper, Bewusstsein, Seele und Transzendenz gehören zusammen, sind eine, wenn auch immer noch rätselhafte, Einheit. Energie und Materie, Sein und Bewusstsein sind dasselbe.
Die Rede von „Gott“ oder dem „Göttlichen“ hat hier eine tiefe Wurzel. Hier liegt der Schlüssel zur Antwort auf die uralte Frage nach dem Sein. Wer aber solche Wandlung ekstatisch erfahren hat, nimmt die Faktizität des traumhaft-wunderbaren Geschehens des Lebens demütig und gelassen hin und akzeptiert im wissenden Unwissen, „dass das Unfassbare unfassbar ist. Und das haben wir gewusst“ (Franz Kafka).