Redaktionelle Vorbemerkung: Mirok Li ist der Autorenname des koreanischen Schriftstellers Ui-gyeong I (1899-1950). In Haeju geboren, das heute in Nordkorea liegt, wurde er als Kind im konfuzianischen Geist erzogen und gebildet. In Seoul begann er 1917 ein Studium, musste jedoch bald seine Heimat verlassen, weil er sich politisch gegen den japanischen Imperialismus engagierte. Er zog zunächst nach China, wo er die koreanische Exilregierung unterstützte. Seit Anfang der 1920er Jahre lebte er dann im Exil in Deutschland, wo er drei Jahrzehnte bis zu seinem Tod verbrachte. Seine Heimat hat er nicht mehr wiedergesehen. Medizinische und zoologische Studien schloss er 1928 an der Universität Würzburg mit dem Doktorat ab. Bekannt wurde er als Schriftsteller in dem zu seinen Lebzeiten noch beschränkten Kreis der Menschen, die in Deutschland an den Kulturen Ostasiens interessiert waren. Trotz seines Widerstandes gegen das japanische Expansionsstreben war er ein Freund der Kultur und Literatur Japans, die er in Deutschland etwa durch den Band Japanische Dichtung (1949) bekanntzumachen half.
1946 erschien der Roman Der Yalu fließt, in dem Mirok Li seine Kindheit und Jugend in Korea reflektierte. Ein Jahrzehnt nach seinem Tod 1950 kam das Buch in einer koreanischen Übersetzung heraus. Die authentische Schilderung des Lebens in Korea aus der verfremdenden Perspektive eines in Deutschland lebenden und schreibenden Autors fand viel Interesse in seinem Geburtsland. Bis heute wird Mirok Lis Grabstätte in Gräfeling bei München von koreanischen Reisenden besucht.
Der Autorenname Mirok ist die koreanische Form des Sanskrit-Namens Maitreya („der Liebende“), mit dem der Buddha der Zukunft bezeichnet wird. In der nachstehenden Geschichte, die aus Lis Sammlung kurzer volkstümlicher Erzählungen (Iyagi) seiner Heimat stammt, spielt dieser Buddha in einer ungewöhnlichen Weise die Titelrolle. (Thomas Wolter)
Mirok Li: Der Mirok-Buddha
Als einmal alle Heiligen aus dem Wunderland Indien auswanderten, tat das auch der gutmütige Mirok-Buddha; er wollte sich zunächst die verschiedenen Länder anschauen und sich später irgendwo niederlassen, um vom Volk verehrt zu werden. So ging er durch das lange Gangestal, durch hohe schwierige Pässe und durch das endlos weite Steppenland. Es dauerte freilich Jahre, weil die heilige Steinfigur sich nur mühsam bewegen und bei jeder Bewegung nur fingerlang vorwärtskommen konnte. Der Buddha wanderte aber unaufhaltsam, ging durch die weite Liautungebene und die Halbinsel Korea.
Als er nun auf einem Hügel hinter dem Samgak-Berg stand, wo er schöne felsige Berge, gurgelnde Bäche und in der Ferne grüne Täler erblickte, gefiel ihm der Platz gut.
»Hier bleibe ich«, sagte er zu sich und stellte sich so, daß sein Blick immerwährend in das schöne Tal gerichtet war.
Einige Jahre später wurde er auch vom Volk entdeckt und ab und zu mit Weihrauch und Opferschalen besucht. Freilich kamen die Leute nur dann zu ihm, wenn sie einen Wunsch hatten, den der gute Mirok-Buddha in Erfüllung bringen sollte. Er fühlte sich aber doch verehrt, und sein gutes Herz tat das Bestmögliche für die Betenden. Einer Frau half er, von einer schweren Krankheit geheilt zu werden, einer anderen, dass ihr Mann einen neuen Ochsen kaufen konnte. Einer Mutter musste er die Tochter mit dem Sohn ihres Nachbarn verheiraten helfen. Er war, als ein Buddha, nicht sonderlich für die Heiraterei interessiert, aber einer betenden Frau die Bitte abzuschlagen vermochte sein gutes Herz nicht. Er hörte immer aufmerksam zu, wenn so eine Frau in der stillen Dämmerstunde zu ihm kam und ihre Wünsche aussprach. Sie sprachen alle so leise und flüsternd, wenn es sich um ihre wahren innersten Wünsche handelte; er musste oft all seine Weisheit anwenden, um zu erraten, was denn eigentlich dieser oder jener Frau fehlte.
Das Rätselhafteste für ihn war aber, dass immer nur Frauen zu ihm kamen und nicht auch Männer. Hatten diese überhaupt keine Wünsche? Freilich kamen hie und da an den schönen sonnigen Tagen Männer heraufgestiegen, gingen aber an seinem Kapellchen vorbei, ohne ihm Opfer darzubringen und zu beten. Manche ließen sich sogar vor seinen Füßen nieder, um sich auszuruhen und die schöne Landschaft unter dem Hügel zu betrachten, ohne dabei die heilige Figur auch nur eines Blickes zu würdigen.
Nur ein einziger Mann machte davon eine Ausnahme. Das war der Kohlenbrenner der hinteren Schlucht; er sah oft den Mirok-Buddha an, wenn er da war. Er trug nämlich täglich seine Holzkohlen zur Stadt, um sie dort zu verkaufen. Jeden Morgen kam er von der Schlucht herunter mit einer schweren Ladung auf dem Rücken und machte eine kleine Rast vor dem Kapellchen. Am Abend stieg er mit dem leeren Traggestell wieder herauf und ruhte hier abermals ein Weilchen, um dann weiter zu steigen. Jedes Mal, wenn er kam, betrachtete er eine Weile das steinerne Antlitz, als ob er irgend etwas mit ihm reden wollte. Aber auch diesem armseligen Kohlenbrenner fiel niemals ein, sich ehrfurchtsvoll zu verbeugen und den Mirok-Buddha um Hilfe zu bitten. Stattdessen tat er etwas anderes; er kam einmal ganz nahe zu ihm hin und klopfte einige Male auf die erhabene Schulter: »Ich habe heute mit den Kohlen viel verdient«, rief er laut ins steinerne Ohr, »ich glaube, ihr habt mir geholfen.« Darauf schüttelte er seine Tasche, dass das Geld nur so klirrte. »Eine Ungezogenheit!« dachte der Mirok-Buddha und merkte dabei, dass dieser Kohlenhändler obendrein etwas getrunken hatte; oh, wenn dieser Mensch wenigstens sein Gesicht ein wenig zu der anderen Seite wenden wollte, dass der furchtbare, widerliche Geruch nicht das erhabene Antlitz streifte!
Während Mirok-Buddha stillschweigend duldete, nur weil er von Grund aus gutherzig war, wurde der Mensch immer vertraulicher. Er fasste sogar die beiden steinernen Schultern mit seinen schmutzigen Menschenhänden und sagte ihm ins Gesicht: »Ihr müsst mir eine Frau verschaffen! Was soll ich mit den Geldern machen, wenn ich sowohl im Frühjahr als auch im Herbst, sowohl beim Mondschein als auch in den langen Winternächten so allein in der Hütte bin? Versteht ihr denn so etwas nicht?« Auch das noch! »Jetzt passt auf!« sagte der Freche, »wir kämpfen einmal einen Ringkampf! Wenn ihr ihn verliert, so müsst ihr mir wirklich eine Frau verschaffen, verliere ich ihn, so dürft ihr mir eine Tüchtige auf den Hinterteil hauen.« Der kräftige Bursche stemmte seine Beine gegen den Fels und schob die schwere Steinfigur nach hinten und nach vorne. Als er sich dann so frevelhaft angestrengt hatte, blickte er verlegen auf die unbewegliche Gottheit. »Ich habe verloren!« ergab er sich, entblößte seinen Hinterteil und schlug sich kräftig selber darauf.
Inzwischen war die Sonne gesunken, und die Dämmerung senkte sich in die Täler. Da kamen zwei junge Frauen mit einem Lampion aus der Schlucht herauf; sie wollten wohl ein Gebet verrichten. Als sie nahe dem Kapellchen waren, versteckte sich der Kohlenhändler. Mirok-Buddha war froh über sein Verschwinden und blickte wohlgefällig auf den Opfertisch, der von der einen der Frauen mit großer Andacht hergerichtet wurde. Sie schien eine treue Magd zu sein. Die Herrin war noch ein junges Mädchen in vornehmer Kleidung; sie verneigte sich und murmelte ihr Gebet: ». . . Seit über zwei Jahren verwaist, lebe ich nun allein ohne Geschwister und ohne Verwandte; erbarmt euch dieses einsamen und hilflosen Kindes und . . . .«
»Ich habe all das schon gewusst«, kam eine tiefstimmige Antwort von hinter der Statue her, »darum habe ich mich bemüht, den Mann ausfindig zu machen, der vom Himmel für dich bestimmt ist. Ich habe ihn hinter dem Hügel, an dem Bach, in einer armen Hütte gefunden. Schickt morgen einen Boten zu ihm!«
Es wurde still. Die Jungfrau errötete, dankte der Gottheit und trat eilig ihren Heimweg an. Auch der Kohlenhändler kam aus seinem Schlupfwinkel, dankte der Gottheit und begab sich nach Hause.
Mirok Buddha aber lächelte nur.