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Freiheit in metaphysischer Sicht

René Guénon

Freiheit als die Absenz von Zwang, dies stellt formal eine negative Definition dar. Da Zwang aber eine Einschränkung ist, wird die Negation einer solchen tatsächlich zur Bejahung. Die Unendlichkeit weiß nichts von Einschränkungen und Zwang. Schrankenlos kennt sie keine Hindernis der Freiheit. Sie ist das Nichtsein oder höhere Sein ohne Zweiheit, im Sanskrit advaita genannt. Ohne Zweiheit existiert kein Zwang.

Doch ist das Sein ebenfalls frei. Sein ist eins; wo nur eins ist, besteht selbstverständlich kein Zwang, weshalb Freiheit im Sinn der Absenz des Zwangs ebenso den Bereich des Seins beschreibt. Weil das Sein als Urgrund der Welt frei ist, zeigt sich Freiheit in allem vom Sein Ausgehenden, demnach in der ganzen Welt.

Freilich besteht hier keine absolute, sondern nur relative Freiheit, weil sich in der Sphäre der Vielfalt gegenseitige Einschränkungen ergeben, welche die Freiheit des Einzelnen begrenzen. Dennoch hat jedes Wesen hat einen gewissen Anteil an der Freiheit. Wir verstanden: Das Sein ist frei, weil es eins ist. Jedes Wesen ist also insoweit frei, als es an dieser Einheit teilhat. Es ist umso freier, je mehr es Einheit in sich trägt. Dabei bleibt belanglos, ob es sich bei dem Wesen als solchem um ein einfaches oder komplexes handelt; es geht darum, zu welchem Grad es im Inneren geeint ist.

Freiheit gehört damit zu jedem Wesen, nicht allein zum Menschen. Die Freiheit des Menschen, der im Zentrum des philosophischen Diskureses steht, ist lediglich ein Fall unter anderen. Zudem ist die relative Freiheit der Wesen dieser Welt und der begrenzte Bereich, in der sie wirken darf, weniger bedeutend als Freiheit in metaphysischer Hinsicht. Diese findet sich im metaphysischen Moment, in dem die Ursache in die Wirkung übergeht. Freilich versteht sich diese Formulierung als bildlich, denn in der Unendlichkeit besteht keine Zeit und keine Kausalbeziehung, wie es unserem Verständnis entspricht. Da die Ursache ohne erkennbaren Einschnitt in die Wirkung übergeht, zeigt sich dieser metaphysische Moment des Übergangs als unfassbar. Er ist in Wahrheit unbegrenzt und übersteigt das Sein. Gleichnishaft ließe sich von einem anhaltenden Wirken einer höchsten und uranfänglichen Ursache reden.

Im Nichtsein bedeutet die Absenz von Zwang das Nichthandeln oder Wu wei (無為), wie es in China heißt. Nie agiert und manifestiert sich das Wirken des Himmels als solches in der prinzipiellen Stille des Nichtseins. In der Welt jedoch wirkt Freiheit in mannigfaltigen Aktionen, was sich im Bereich des Menschen in Gestalt seines alltäglichen Tuns zeigt. Wirken als Nicht-Handeln gehört einzig dem Nichtsein an; in der Welt ist es unmöglich und sogar dem Sein nicht eigen. Die Welt mit ihren vielerlei Wesen manifestiert sich nicht durch Nichthandeln, sondern durch eine Aktion des Seins. Nichtsein ist durch nichts bestimmt; Sein bestimmt sich selbst und die Welt.

Das Einzelwesen bestimmt sich in dem Maß, in dem es einheitlich wird und so an der Einheit des Seins teilhat. Darüber hinaus wird es von anderen Wesen bestimmt. Besitzt jedes Wesen eine relative Freiheit, kennt die absolute Freiheit nur jenes Wesen, das auf der Stufe reinen Seins eins oder ohne Zweiheit wurde, also in seiner Verwirklichung über das Sein hinausging. In diesem Fall – und nur dann – lässt sich sagen, ein Wesen sei sein eigenes Gesetz, weil es eins ist mit seinem eigentlichen Grund, seinem Ursprung und Ziel.

Aus dem Buch: Les états multiples de l’Être (Paris 1932).