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Amida

Louis Couperus

Der Todestag des niederländischen Romanciers Louis Couperus (1863-1923) jährte sich im Sommer 2023 zum 100. Mal. Der inzwischen im deutschsprachigen Raum kaum mehr bekannte Autor, wurde zu Lebzeiten auch hier viel gelesen. Couperus lebte bis zu seinem 15. Lebensjahr im heutigen Djakarta, wo er zur Schule ging. Den Umzug nach Den Haag dürfte er als desillusionierenden Schock erlebt haben. Zeit seines Lebens blieb er Asien verbunden. Er ließ sich zum Lehrer für die niederländische Sprache ausbilden, ergriff diesen Beruf allerdings nie praktisch. Stattdessen widmete er sich dem Schreiben. Mit zwanzig Jahren erschien 1883 ein erster Gedichtband. Den Durchbruch zur Bekanntheit erreichte er 1889 mit dem Roman Eline Vere. In seinen Büchern griff Couperus immer wieder Motive auf, die für seine Zeitgenossen in Tabu-Zonen lagen, etwa die verschiedenen Spielarten der Sexualität und das Thema der Scheidung von Ehen. Damit sorgte er regelmäßig für negative Aufmerksamkeit, etwa im Fall des 1905 entstandenen Romans Heliogabal. Die Kritik maß den Protagonisten seiner Erzählungen psychologische Tiefe bei. Couperus Werk lässt seine Beziehung zu den Kulturen Asien erkennen. Dies hatte einerseits damit zu tun, dass er einen wichtigen Teil seiner Kindheit und Jugend in Java verbrachte. Dazu kam eine tiefe Beschäftigung mit theosophischen Lehren nach H.P. Blavatsky, in denen er zahlreiche buddhistische Elemente fand. Louis Couperus lebte als ein unermüdlich Reisender nie lange an einem Ort. 1920 bis 1922 war er mit seiner Frau in Ostasien unterwegs. Tief vom traditionellen Japan angesprochen, hatte Couperus zu seinem Bedauern den Eindruck, dass sich das Land zu sehr westlichen Einflüssen öffnete und in Gefahr stand, die eigene Identität aufzugeben. Der folgende Text „Amida“ zeigt einen tief vom Buddhismus Japans angesprochenen Louis Couperus. Die deutsche Übersetzung von Else Otten (Japanische Streifzüge, Peter J. Oestergaard Verlag 1929) wurde für die Veröffentlichung in Ḍamaru redigiert. (red.)

Meine Liebe und Verehrung für den holdseligen Jizō [Kṣitigarbha], dem ich alle Last meines Lebens in Gestalt eines Kieselsteines in den Schoß legen durfte, tut meiner Verehrung für Amida, den Spender des grenzenlosen Lichtes und Gott der erbarmungsvollen Weisheit, keinerlei Abbruch, weil diese Verehrung so völlig anderer Art ist. So vertraut wie mit Jizō könnte ich mit dem strahlenden Amida niemals sein, wenngleich er mich in einer Flut goldenen Lichtes zu trösten kam, als ich krank darnieder lag.

Amida oder Amitābha, wie er im Sanskrit heißt, ist doch auch eine Gottheit von großer Zärtlichkeit. Mit Kwannon [Avalokiteśvara] und Jizō bildet er die Dreifaltigkeit der erbarmungsvollen Gottheiten, die nichts vom Nirwana wissen wollen, bevor der ganzen Menschheit das ewige Heil gesichert ist. Die buddhistischen Gläubigen haben des Öfteren im Laufe der Jahrhunderte die Götter ihres Pantheons mit Tugenden gleichsam überschüttet. Amida ist der Gott des Erbarmens, zugleich aber auch der Gott der Weisheit.

Jeder Gläubige betet ihn indessen auf seine Weise an, und ich für mein Teil stelle ihn mir lieber als Gott des Erbarmens vor. Sein Paradies liegt im Westen; dort thront er in der sinnenden Haltung der „dyāna-mudrā“; die Daumen gegeneinander gelegt, die Handflächen geöffnet nach oben gekehrt; der Heiligenschein umstrahlt den ganzen sitzenden Körper, nicht nur den Kopf. Die Beine hält er gekreuzt.

Aber wenn sein Paradies im Westen gelegen ist und Amida der Bodhisattva des Westens ist, warum strömen dann die Gläubigen auch im Osten zu ihm hin? Es gibt im August – dem Monat, in dem ganz Japan in ungeheurem Pilgerzuge zu allen heiligen Bergen emporsteigt – eine Nacht, in der Tausende und aber Tausende von Pilgern sich zu den östlichen Bergen aufmachen, zu einem sehr heiligen Ort, wo sie nach Stunden vorbereitenden Wartens in der Sommernachtsstille und Finsternis, in der Sonne selbst Amida, den Erbarmungsvollen und den lieblichen Weisen am Horizont aufsteigen sehen wollen.

Diese Pilger haben in jener Nacht alle Entzückungen ihrer Seelen, jede allerhöchste Ekstase empfunden … sie warten und warten stundenlang … sie knien auf den Felssteinen, vom Bergwinde umtobt, der sie selbst in diesem Monat bei all ihrer sonstigen Regungslosigkeit erschauern lässt … sie beten und beten … und sie rufen: „Namu Amida Butsu! Rette uns, o rette uns, Amida Buddha!“ Und wenn endlich Strahl auf Strahl der aufgehenden Sonne langsam durch die Wolken dringt, wenn endlich an diesem gebenedeiten Morgen die Sonne aufsteigt, schaut der verzückte Pilger, schauen die Tausende von Pilgern dem Gott selbst ins strahlende Angesicht, während sie ausrufen: „Rette uns, o rette uns, Amida, der du dereinst Buddha sein wirst!“

Dann steigt er im Osten empor! Also muss doch sein Paradies auch im Osten sein, wie es im Westen ist! Vom Osten bis zum Westen muss es sich ausdehnen wie ein Halbkreis, wie eine Sphäre der Seligkeit. Wer Amida im Westen verehrt, darf ihn auch im Osten an diesem seligsten aller Augustmorgen auf dem Kamme der östlichen Berge verehren. Und wenn wir jenes rührende, prächtige Triptychon sehen, das Eshin Sōzu gemalt hat und das im Goldenen Pavillon zu Kioto verwahrt wird, so will es auch mir scheinen, als ob Amida selbst mit der aufgehenden Sonne wie vor den Augen jener Tausende von Gläubigen aufsteigt. Glanz fließt wie Wogen eines Lichtmeeres um die Gottheit. Amida taucht aus dem Lichtmeer auf: ihm zur Seite Kwannon, zur andern Seite Seishi, eine Göttin der Weisheit; beide Göttinnen halten Musikinstrumente in der Hand, beugen sich herab und bleiben in tieferen Regionen als Amida, dem sie ihre Huldigung mit Spielen und Singen darbringen. Wie Schwestern begleiten sie den göttlichen Bruder in diesem heiligsten Augenblick.

Ich kann mir’s nicht anders denken, als dass die Gläubigen Amidas Aufsteigen beim Sonnenaufgang über Groß-Japan, Dai-Nippon, der Welt, so ansehen. Mit lautem Bittgeschrei flehen sie ihn um Hilfe, Gnade oder Erbarmen an. Um seinen Hals hängt eine Schnur mit Quasten. Wer diese Schnur ergreift, ja, wer diese Schnur ergreifen darf, den wird Amida in seinen Händen sicher über alles Leid dieser Welt emportragen, die eine Hölle ist …

Ich weiß nicht, was die Pilger empfinden, wenn die heilige Morgenstunde gekommen ist. Vermutlich werden sie in Verzückung die Hände nach der goldenen Schnur ausstrecken, die ihnen doch so fern ist wie die aufgehende Sonne, werden sie dann zur Erde sinken lassen, das Angesicht tief zu Boden neigen, sich dann fromm und weihevoll wieder aufrichten und ruhig den heiligen Ort verlassen und die östlichen Berge wieder hinabsteigen. Sie haben Amida gesehen, sie haben nach Amidas Halsschnur gegriffen, nach der „Schnur des Erbarmens“; sie werden nicht verloren sein; Amida wird sie retten. Sie werden ihre alltägliche Beschäftigung dort unten in Stadt und Dorf gestillten und ruhigen Gemüts von neuem aufnehmen. Der Erbarmer hat ihnen zugelächelt – hat sie ermutigt. Erbarmen hat ihnen aus seinem in rosig-goldener Glorie gebadeten sanft lächelnden Angesicht entgegengeleuchtet …

Ich finde diesen Kult sehr schön und sehr gefühlsinnig. Wir armen Menschen brauchen für unsere verzweifelten Seelen Helfer, die um unseretwillen das Paradies verlassen, gleich als achteten sie es für nichts, solange wir Menschen noch nicht von den Höllenqualen befreit sind, die unsere Seelen schmerzen. Und was mich an all den Amida-Bildnissen, die ich auf Lotosblumen thronend in den Nebentempeln großer Tempelgebäude antraf, so besonders stark berührte, das war der sanfte, fast weiblich-weiche, erbarmungsvolle Zug auf dem Antlitz, das dem des Buddha glich – aber doch anders ist: menschlicher, uns näher gerückt, während mir das Gesicht des Buddha selbst unserer armen Welt ferner zu sein schien, entrückter und in vollkommener Ruhe und tiefstem Wissen erhabener und göttlicher.