Ein japanisches Märchen
Würdevoll schritt frühmorgens ein Reiher am Rand des Teichs auf und ab. Bewusst und langsam setzte er ein Bein vors andere, um unauffällig zu bleiben. Er hatte Lust auf eine kräftige Mahlzeit und hielt Ausschau nach einem geeigneten Opfer. Das Wasser war rein und klar, und so entdeckte er bald einen schlanken Aal, der sich genau in seine Richtung schlängelte. Nicht weit entfernt schwamm ein lebhaftes Fischlein. Kaum hatte der Reiher die beiden bemerkt, landete nur wenige Schritte entfernt ein Frosch auf dem Blatt einer Lotosblume und begann zu quaken.
„Großartig,“ freute sich der Reiher, „das wird wahrlich ein satter Ertrag.“
Regungslos beobachtete er achtsam die drei für den Fang bestimmten Leckerbissen. Keine ihrer Bewegungen sollte ihm entgehen, während er nachdachte: „Wen von den dreien nehme ich zuerst? Ist es besser, mit dem Schnellsten zu beginnen oder mit dem Nächsten?“
Während er dieses Problem gründlich mit allem Für und Wider erwog, spürten die drei als Futter Ausersehenen die drohende Gefahr. Blitzschnell verschwand der Aal im Schlamm des Teichbodens, während der Frosch mit zwei raschen Sätzen das Ufer erreichte und zwischen Pflanzen unsichtbar wurde. Das kleine Fischlein hatte sich währenddessen zwischen Schilfrohren verkrochen, wo kein Schnabel es erreichte.
Wie jedem allzu Achtsamen und Überlegten, der über dem Beobachten und Denken das Handeln vergisst, entglitten ihm die Früchte seiner Mühen. Still blieb der Reiher auf seiner Stelle, um zu warten, bis sich wieder ein Opfer zeigt. Doch kam nichts in seinen Blick. Er harrte aus für Stunden und Tage, Wochen und Monate. Weil er nichts aß, fielen ihm die Federn aus, und die Krähen fraßen sein Fleisch. So steht der Reiher noch heute achtsam und besonnen als Gerippe am Rand des Teichs. Oft bläst der Wind durch seine Rippen. Manchmal lassen sich Vögel auf seinem Kopf, dem Schnabel oder den Schultern nieder, um auszuruhen. Dann ist er nicht einsam.
(Deutsche Übersetzung: Thomas Wolter)