Thomas Wolter
„Der süße Tau immer klar und rein,“ heißt es in einem der vielen Gedichte über den Berg Wutai. Zweimal war ich in früheren Jahren schon dort, in der chinesischen Provinz Shanxi. Bei beiden Besuchen sah ich nur einen Bruchteil dessen, was ich mir vornahm, obwohl ich allein reiste und Herr meiner Zeit war. Die sanfte Atmosphäre dieses Berges versetzte mich in eine Langsamkeit, die nur den Besuch weniger der vielen Tempel erlaubte. Stunden, manchmal den ganzen Tag verweilte ich an einem Platz, vertieft in ein Bild, eine Statue, einen Baum oder ein rinnendes Gewässer. Die Zeit und alles, was um mich geschah, spielte keine Rolle. Der Berg ist heute auch ein touristischer Ort. Aber ich nahm Besucher ohne spirituelle Ambitionen nicht wahr, sah buchstäblich durch sie hindurch, was mir an anderen heiligen Stätten Chinas weniger gelang.
Im Sommer 2023 kam ich zum dritten Mal und diesmal nicht allein. Meine Gefährtin Wei und ich wohnten in Taihuai. Der von Tempeln erfüllte Ort liegt zwischen den fünf Erhebungen des Berges, der an seiner erhabensten Stelle mehr als 3000 Meter aufragt. Wie bei den früheren Besuchen hielt mich innere Ruhe zur Gemächlichkeit an. Wei erging es ebenso, weshalb einvernehmlicher Frieden die vier Tage prägte. Unsere Partnerschaft kennt normalerweise den ständigen Dialog in englischen, chinesischen und deutschen Worten. Doch am Berg redeten wir selten und schwiegen viel. Sprach das satte Sommergrün des Waldes zu mir, spürte ich, wie Wei diese Farbe in der Stille ebenso hörte. Beide wussten wir, dass für den anderen „der süße Tau immer klar und rein“ war.
Der Berg Wutai gilt als irdische Wirkungssphäre des Bodhisattvas Mañjuśrī, der die höchste Weisheit verkörpert. Das glaubte man sogar im alten Indien. Im Avataṃsakasūtra heißt es, Mañjuśrī wohne auf einem „klaren, kalten Berg“ im Nordosten. Vielleicht dachte man ursprünglich an den Himalaja. Doch spätestens seit dem 7. Jahrhundert besuchten indische Pilger den Wutai Shan, der in China wie im indischen Sūtra „Klarer kalter Berg“ (Qingliang Shan) genannt wird.
Der Bodhisattva manifestierte sich an diesem Ort zuweilen in menschlicher Gestalt vor Pilgern, doch oft zeigte er sich als fünffarbige Wolke. Mir scheint die schillernde Wolke als Symbol der Weisheit sehr passend: Die höchste Erkenntnis ist nicht einfarbig und hat keine unveränderliche Form. Sie gleicht der Wolke, die sich in den Winden am Himmel mit spielerischer Leichtigkeit vom Elefanten mit gestrecktem Rüssel zu drei den Blick fliehenden Schafen formt.
Der britische Autor John Blofeld (1913-1987), der den Berg einige Jahre vor der Gründung der Volksrepublik besuchte, sah auf dem Südgipfel in der Nacht zahllose „flaumige Bälle von orangegetöntem Feuer, die sich durch den Raum bewegten, ohne Eile und majestätisch – wahrhaftig eine angemessene Manifestation der Gottheit!“ Blofeld, der dies im Buch Rad des Lebens erzählt, überlegte, ob für das Phänomen statt der Offenbarung des Bodhisattva eine natürliche Erklärung in Frage käme, etwa austretende Gase oder Leuchtkäfer. Keine dieser nüchternen Deutungen überzeugte ihn. Aber auch, dass es sich beim Gesehenen tatsächlich um Mañjuśrī handelte, schien ihm kaum fassbar: „Angenommen, daß eine Weisheitskraft im Universum als getrennte Wesenheit existiert – d. h. getrennt auf der Ebene unterschiedlicher Erscheinungen – ist es dennoch schwer zu verstehen, warum sie sich stofflich in der Form langsam sich bewegender Feuerbälle offenbaren sollte. Ich weiß es wirklich nicht. Was bleibt übrig? Schweigen ist vielleicht das Klügste.“
Ich dachte an dieses Erlebnis Blofelds, als Wei und ich am Tor des Tayun-Tempels saßen, der für seinen weißen Reliquien-Stūpa bekannt ist.
„Gern würde ich etwas sehen, so wie Blofeld,“ sagte ich. „Ruhig und empfänglich bin ich hier immer. Aber ich fürchte, es wird beim dritten Versuch wieder nichts.“
Wei kannte die Beobachtungen Blofelds, dessen Bücher sie las. Sie schätzt den Autor, dessen Ehefrau eine Chinesin war und der die spirituelle Kultur des Reichs der Mitte wie nur wenige Abendländer aufnahm und verstand.
„Deine Hoffnungen trügen,“ meinte Wei. „Wenn du orangene Feuerkugeln oder oszillierende Wolken als Erscheinungen der Weisheit erwartest, findest du nichts. Mañjuśrī erscheint als Mensch, den man gewöhnlich übersieht.“
Zwar verstand ich nicht, was sie meinte. Doch ich nickte, um das Thema nicht zu zerreden, und dachte an Blofelds Worte: „Schweigen ist vielleicht das Klügste.“
Am Abend in der Herberge, während Wei die Schafgarbenstängel für ihre Konsultation des Yijing-Orakels vorbereitete, las ich in Lama Anagarika Govindas Buch Der Weg der weißen Wolken, das mich auf Pilgerfahrten oft begleitet. Nach Govinda repräsentieren Mañjuśrī und seine Weisheit den Sieg eines Menschen über den Tod. Der Bodhisattva verkörpert „das transzendente Wissen, daß der Tod im Grunde Illusion ist und daß diejenigen, die sich mit der höchsten Wirklichkeit identifizieren – der ‚Leere‘ (śūnyatā), die alle Fülle des inneren Zentrums wie des Universums umfaßt – den Tod überwinden und befreit werden von den Fesseln des saṃsāra, der Wiedergeburten in den sechs Bereichen der Täuschung und Verblendung.“ Sollte für diese Einsicht und Verwirklichung ein bestimmter Ort notwendig sein?
Tatsächlich hießen es nicht alle buddhistischen Meister gut, auf der Suche nach Weisheit und Todlosigkeit zu heiligen Stätten zu pilgern. Im 9. Jahrhundert meinte Linji Yixuan, den man in Europa meist unter der japanischen Namensform Rinzai kennt: „Es gibt zahlreiche Schüler, die Mañjuśrī auf dem Berg Wutai suchen. Grundsätzlich ist das falsch! Auf dem Berg Wutai gibt es keinen Mañjuśrī.“
Der Hinweis gilt Menschen wie mir, die es an Plätze zieht, die im Ruf stehen, das spirituelle Fortschreiten zu fördern. Linji sah die materielle Oberfläche der Religion skeptisch. Heilige Schriften, Kultbilder, Ritualpraktiken und Pilgerfahrten lenkten vom Wesentlichen ab. Er glaubte an den unmittelbaren Durchbruch zur Freiheit beim meditativen Sitzen mit leerem Geist.
Die Liebe zu äußeren Formen ist sicher bedenklich, wenn man sich daran klammert, um nicht auf den Grund der Dinge zu blicken. Aber in Zeiten, in denen es mir nicht gelingt, in die Tiefe zu gehen, bleiben mir die ehrfurchtgebietende Natur und die Kunst an einem Ort wie diesem, als Tore in ein Weiteres. Führt eine Missachtung dieser Oberfläche nicht ebenso in die Irre wie ein Haften daran? Ich fühle mich jedenfalls gut in der jahrtausendealten Tradition der Pilger, die ihrer inneren Suche einen äußeren Ausdruck verliehen.
Neben Buddhisten besuchten spätestens seit dem 10. Jahrhundert viele Daoisten den Berg Wutai. Im Lauf der Zeit wurde er zudem ein Ziel von Wallfahrten tibetischer und mongolischer Buddhisten.
John Blofeld erfuhr vor einem Jahrhundert, dass Pilger aus Tibet und der Mongolei nicht selten fünf Jahre für ihre Wallfahrt benötigten. Sein Buch Rad des Lebens lag auf dieser Reise neben Lama Govindas Weg der weißen Wolken in meiner Tasche, spirituelle Autobiografien zweier befreundeter Autoren. Ich schlug nach, was Blofeld über diesen Ort schrieb:
„Die tiefe religiöse Überzeugung der Menge, die ihre Gebetsmühlen herumwirbelt, ihre Rosenkränze durch die Finger gleiten lässt, die sich bis zur Erde verbeugt und vor den Schreinen Sutras absingt und Anrufungen intoniert, hat wahrscheinlich im Westen seit den Tagen des Mittelalters nicht ihresgleichen. Solch grenzenlose Frömmigkeit gab mir ein Gefühl der Scham, wenn ich an meine eigenen nüchtern intellektuellen und skeptischen Bemühungen um die Wahrheit dachte. Wu T’ai lehrte mich, daß die Lehre nicht so wichtig ist, daß Glaube, ernsthaftes Bemühen und ein brennendes Verlangen nach Erleuchtung uns zu neun Zehnteln mit dem ausrüsten, dessen wir für den Pfad zum Nirvana bedürfen.“
Beim Lesen dieser Stelle überkam mich ein Empfinden der Scham, wie es der Autor zum Ausdruck brachte: „Mache ich nicht alles falsch? Ich denke zu viel über Spirituelles nach, reise zu bequem mit dem PKW, schaue zu oft in mein Smartphone. Ich tue zu viel, besitze zu viel, – ja, mein ganzes Leben besteht aus zu viel von viel zu vielem. Mir fehlt die Hingabe, die es möglich macht, mich in Verehrung auf den Boden zu werfen und alles loszulassen.“
Nachdem Wei ihr Befragen des Yijing-Orakels beendet hatte, sagte ich: „Die alten Pilger, die auf langen Wegen kamen, weniger mit Wissen belastet und ohne Technik, die konnten noch erfahren, um was es geht. Ich kann das nicht mehr.“
Wei sagte: „Es spielt keine Rolle, ob man zu Fuß, auf dem Pferd, mit dem Bus oder mit dem Auto anreist. Wichtig ist allein, hier zu sein. Jeder erfährt es dann auf seine Weise. Vielleicht lernst du gerade jetzt deine Weisheitslektion.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Weißt du, wer der einflussreichste Pilger auf diesem Berg war?“
Ich überlegte, an wen Wei wohl dachte. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten kamen im Lauf der Jahrhunderte und schrieben darüber. Der älteste ausführliche Bericht stammt von dem Mönch Huixiang, der 667 auf den Berg pilgerte. Auch der Japaner Ennin (794-864), der dritte Abt des Enryakuji, schrieb über seine Erfahrungen am Wutai. Andere fielen mir ein, von denen ich gelesen hatte, aber ich wusste nicht, an wen Wei dachte.
„Wer war es?“ fragte ich.
„Mao Zedong.“
„Mao? Ein buddhistischer Pilger?“ Fast hätte ich zu meiner Frage zynisch gelacht.
Wei ließ sich einige Minuten Zeit, beachtete mich nicht und rollte ihre Schafgarbenstängel bedächtig in ein Tuch ein. Dann sah sie mich an:
„Mao Zedong wurde von seiner Mutter buddhistisch erzogen. Sie und er besuchten täglich vor und nach der Schule den Tempel und rezitierten Sūtras. Das war für den Jungen mehr als Pflicht und Gehorsam. Er war vom Buddhismus überzeugt und litt darunter, dass sein Vater nichts davon wissen wollte. Seit er neun Jahre alt war, versuchte er, den Vater dafür gewinnen.
Diese Neigung hat Mao Zedong nie verloren. Chinesische Wissenschaftler haben seine Werke genau analysiert. Darum weiß ich, dass 46 Prozent der von Mao herangezogenen Stellen von Marx, Engels, Lenin und Stalin stammen. Aber 47 Prozent der angeführten Zitate nahm er aus konfuzianischen, buddhistischen, daoistischen und anderen alten Quellen. Für das Entstehen der bedeutenden Mao-Zedong-Ideen waren alte Tradition wichtiger als die westlichen Kommunisten.
1949, als Mao Zedong seine Gegner besiegt und die Volksrepublik ausgerufen hatte, kam er nach hier auf den Berg und wünschte bei einem der Tempel ein Orakel. Es ergab die Zahl 8341. Als er die Mönche fragte, was das bedeutet, lehnten sie eine Auslegung ab. Die Zahl 8341 enthielt seine ganze Zukunft. Zum Regiment, das sein Leben schütze, wurde die Einheit 8341 gewählt. Mao Zedong wurde 83 Jahre alt und führte 41 Jahre die Kommunistische Partei. 8341, auf diesem Berg war sein weiteres Leben bekannt, als der Pilger kam. Jeder erfährt es auf seine Weise, gleichgültig wer er ist und wie er reist. Verstehst du?“
Ich traute meinen Ohren nicht: „Maos Kulturrevolution hat so viel buddhistisches Erbe vernichtet. Das zeigt, dass er seinen Kinderglauben vollständig aufgab. Wenn er später alte Schriften zitierte, dann doch wohl nur, um sie zu angreifen. Was zählen eine Pilgerfahrt und ein Orakel, das er von Mönchen wünschte, gegen seine Zerstörungen.“
Wei warf mir einen mitleidigen Blick zu: „Du denkst immer so eng, obwohl man weit fühlen kann. Die gläubige Kindheit ist ebenso wahr wie die spätere Kritik. Du kannst das eine nicht gegen das andere ausspielen. Gutes und Böses kommen immer miteinander. Aber wer weiß schon, was gut und böse ist? Was heute falsch wirkt, stellt sich in hundert Jahren als Segen heraus. Jede Zerstörung ist ein Neubeginn. Wo du herkommst, konzentriert man sich auf Fehler. In der Geschichte eurer Völker seht ihr so viel Schande und viele Menschen als Bösewichte. Aber es ist immer beides da, Gutes und Schlechtes. Auch im Schlechten verbirgt sich Gutes. Das gilt in der großen Geschichte und im kleinen Leben. Wie könnte ich sonst mit Dir zusammen sein?“
Wieder einmal hatte ich keine Antwort für Wei. Wir kehrten zum Schweigen zurück und gingen schlafen.