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Lebendiger Buddhismus im Abendland

Benedikt Maria Trappen

In einer frühen Abteilung meiner, in mehr als vier Jahrzehnten mit immer neuen Anbauten und Verzweigungen weiträumig gewordenen Bibliothek befindet sich ein Buch, auf das ich erst wieder aufmerksam wurde, nachdem ich seinen Autor im Literaturarchiv in Marbach als Briefpartner Luise Rinsers entdeckt hatte: Lama Anagarika Govindas Vermächtnis Lebendiger Buddhismus im Abendland.

Nicht immer lässt das Erscheinungsjahr eines Buches verlässlich auf die Lesezeit schließen. Die Art und Weise aber, in der ich Bücher las, mit Markierungen, Anmerkungen und Lesezeichen versah, gibt zuverlässig Auskunft über die Lesezeit. Das mit einem Vorwort von Karl Heinz Gottmann versehene Buch habe ich demnach zeitnah nach seinem Erscheinen 1986 gekauft und gelesen.

Auf den Autor aufmerksam wurde ich durch Manfred Gies, der seit unserer ersten Begegnung im theologischen Seminar der Universität Saarbrücken 1981 für mich zu einem Lehrer und Guru geworden war, eine Rolle, Bezeichnung und Bedeutung, die er für sich nie in Anspruch genommen und immer wieder entschieden abgelehnt hat. Auch über die schicksalhafte Beziehung von Schüler und Lehrer findet sich ein Kapitel in dem Buch, und damit gehört Anagarika Govindas Vermächtnis für mich zu den Büchern oder Ereignissen, die schicksalhaft in unser Leben hineinwirken, indem sie uns, wie alles Wesentliche, zur richtigen Zeit am richtigen Ort begegnen.

Das Buch „Lebendiger Buddhismus im Abendland“ erschien 1986, ein Jahr nach Lama Govindas Tod.

Blättere ich heute in dem Buch, führen die eingelegten Lesezeichen und Markierungen mich zu Kernaussagen und Einsichten, die den Leser damals schon ebenso tief beeindruckt haben, wie sie es heute noch tun. Einsichten, die sowohl Sachverhalte betreffen, die damals schon hinter mir lagen oder hinter mir zu liegen schienen, als auch Dinge, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten erst auf mich zukommen sollten: Leben und Erkennen als schöpferischer Prozess und Wandlung; Intuitionen und Symbole als Keime künftiger Entwicklung; Leben als Weg, Ausrichtung und Entwicklung zur Ganzheit, Erlösung aus der Vereinzelung; Stufen des Erwachens, der Freiheit.

Auch Warnungen fehlen nicht, vornehmlich der Hinweis auf die Gefahr, dass Einsichten und Intuitionen sich vom gelebten, faktischen Leben, der Erfahrung lösen können und der Mensch anders handelt und lebt, als er denkt. Die Bedeutung der Rückbindung des Denkens, der Erkenntnis an Erfahrung hatte ich zuvor bereits bei Descartes und Kant, Hegel und Husserl begriffen, ebenso die Notwendigkeit radikaler Vorurteilslosigkeit und Dekonditonierung.

Auch die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit und Verbundenheit, die dem jungen Leser als Grundgesetz bereits aufgeleuchtet war, findet sich an vielen Stellen wieder, ebenso wie die Aufhebung als Prinzip des dialektischen Prozesses, der ewigen schöpferischen Gestaltung. Metaphysik als Weg zur Freiheit, Ganzheit, der von der mit Gewissheit einleuchtenden Idee oder Denkerfahrung zu wirklicher Erfahrung führt. Um was ich zuvor intensiv – auch mit Heideggers Schriften – gerungen hatte, fand hier seine Bestätigung. Sinn der Metaphysik ist die Überwindung der Metaphysik, die Menschwerdung des Menschen. Und der Ort des Aufbruchs, die sinnliche Wirklichkeit, ist zugleich das Ziel – hier und jetzt – das freilich unendlicher Erweiterung und Vertiefung fähig ist. Dieser Weg der Läuterung und Befreiung erfordert Disziplin, Geduld, Verzicht, Opfer und die entschiedene Hinwendung weg vom eigenen Ich zu den anderen. Denn je mehr wir uns von unserem Ich befreien und die Wände unseres selbstgeschaffenen Kerkers niederreißen, desto größer wird die Klarheit und Leuchtkraft unseres Wesens und mit ihr die Überzeugungskraft unseres vorgelebten Lebens.

Die Überwindung des Ich, die Loslösung vom Ego bleibt die zentrale paradoxe Herausforderung der Anātman-Lehre, da ihre Einlösung und Verwirklichung den Verzicht auf jegliches Eigeninteresse einschließt – den Wunsch nach der eigenen Erlösung inbegriffen. Nicht Nirvāṇa, das Erlöschen von Begehren, Illusion und Leid, stellt Govinda daher in den Mittelunkt, sondern das Bodhisattva-Ideal, die entschiedene Hinwendung zum anderen. Andere lehrend, anderen helfend, die von selbst kommen wie die Bienen, „angezogen vom Duft der Blüte und dem Geruch des Nektars“, vertieft und verwirklicht der Lehrer sein Wissen und hilft, rettet sich selbst.

Wie langwierig, schmerzlich und dunkel – immer wieder bis an die äußerste Grenze des Erträglichen – wie anspruchsvoll, schwierig und gefährlich dieser Weg ist und sein kann, aber auch, welche Gnade, welcher Segen, welche Fülle an Licht und unverhoffter Rettung möglich und wirklich sind, ermisst nur, wer den Point of no Return entschlossen hinter sich gelassen und sein Leben unbeirrt dem großen Ziel geweiht hat. Stanislaw Grof hat die Stadien dieses Weges zur Freiheit und zweiten Geburt anschaulich und eindrücklich beschrieben und unmissverständlich klargemacht, dass der letzte Schritt zur Freiheit mit intensiver Angst vor der gänzlichen Katastrophe, Niederlage, der völligen Vernichtung einhergeht. Der Tod des Ich ist keine bloße Metapher, sondern ein Prozess, der im Ernst durchlebt werden muss, um sich als Übergang, Wandlung erweisen zu können.

Govindas Buch, das zunächst lediglich eine von ihm autorisierte Zusammenstellung seiner Einsichten und Lehren aus früheren Schriften und Mitschriften sein sollte, wurde selbst noch einmal zum lebendigen Beispiel der schöpferischen Aneignung und Neugestaltung – wenn auch in dem lebenslang gereiften deutlichen Bewusstsein, dass sich mit erfahrungsvollen Worten zwar auf Wesentliches aufmerksam machen und hinweisen lässt, die wesentlichen Erfahrungen aber unsagbar bleiben und von jedem einzelnen selbst gemacht werden müssen.

Damals wie heute wurde mir die lebendige Lektüre zum Spiegel des Vergangenen, Gegenwärtigen und Künftigen und zur Bestätigung des rätselhaft Wunderbaren. Was mehr kann ein wirklicher Leser von einem wirklichen Buch erwarten?