Lama Anagarika Govinda
Vernunft ist ein wundervolles Werkzeug, ohne das wir nicht existieren könnten. Aber es gibt Dinge, die über unsere Vernunft hinausgehen, und wir sollten die Bescheidenheit haben zuzugeben, dass unserem Verständnis Grenzen gesetzt sind. Vielleicht werden wir eines Tages fähig sein, unsere jetzigen Grenzen zu überschreiten und uns in einem Bereich zu bewegen, der jenseits dessen liegt, was uns jetzt noch als Wahrheit erscheint. Aber bevor wir nicht unsere Vernunft innerhalb der Grenzen unserer Fähigkeiten betätigt haben, haben wir kein Recht, unsere Vernunft missachtend wegzuwerfen.
Die Verachtung des Intellekts ist am stärksten bei denen, die sich ihres Intellekts nie richtig bedienten. Ein solches Verhalten aber finden wir leider häufig bei konventionell religiösen Menschen, die sich im Besitz der „einzigen und alleinigen Wahrheit“ wähnen.
Glaube ist gewiss etwas sehr Schönes, das uns Mut und Vertrauen einflößen kann, so dass wir uns der Weisheit des Lebens überlassen, obwohl wir oft deren Wege nicht verstehen. Aber es ist ein Zeichen mangelnder Reife und Intoleranz – ja, ein Zeichen geistiger Kurzsichtigkeit und Anmaßung –, wenn man den eigenen Glauben als etwas Unfehlbares und erhaben über alle anderen Glaubensformen betrachtet.
Wir mögen Gründe für unsere Meinungen und Ansichten haben, wenn wir sie mit denen anderer Menschen vergleichen. Da sich aber unser Verständnis auf das gründet, was wir für tatsächlich oder logisch halten, verwenden wir einen Maßstab, der willkürlich ist und nicht von allen anderen denkenden Wesen anerkannt werden muss. Je mehr wir die Gesetze der Welt und unseres eigenen Denkens beobachten, um so klarer erkennen wir, dass das, was wir „Wirklichkeit“ nennen, sich auf zwei verschiedenen Ebenen bzw. in zwei unterschiedlichen Richtungen auswirkt.
Die eine vollzieht sich horizontal und entspricht dem Gesetz von Ursache und Wirkung, auf dem auch unsere Logik basiert; die andere entspricht dem Gesetz der Synchronizität. Während erstere sich in der Zeit vollzieht und etwa einer geraden Linie von aufeinanderfolgenden, sich gegenseitig bedingenden Ereignissen zu vergleichen ist (Logik), so verbindet letztere Ereignisse, die gleichzeitig auftreten, und zwar ohne logische Verbindung und aus Gründen, die unser Verständnis und unser Beobachtungsvermögen übersteigen. Diese andere Art der Realität verbindet Geschehnisse, die nicht unserem Zeitsinn unterworfen sind und die daher auch nicht mit der horizontalen Linie der in der Zeit aufeinanderfolgenden Ereignisse assoziiert werden können. Sie stehen sozusagen auf Linien, die sich senkrecht zu unserer angenommenen horizontalen Zeitlinie verhalten und diese durchschneiden.
Die Richtigkeit dieser Konzeptionen ist nicht mathematisch beweisbar. Sie gehören der Welt unserer Intuitionen an, die aus der Tiefe unseres inneren Wesens aufsteigen und in denen die kosmischen Gesetze ihren Individuellen Ausdruck finden. Sie waren die ersten Prinzipien, die den Menschen aus der Dunkelheit unbewusster Triebe in eine von ihm neu zu entdeckende Welt führten, die ihm in dem Maße vertraut wurde, in dem er durch vermehrten Gebrauch der Vernunft und des folgerichtigen Denkens jene Ordnung entdeckte, auf der die Gesetze der Welt und die Rhythmik des Universums beruhen.